Die Bibliothek des Zaren
ebenfalls schnurstracks ins Loch kullerte.
»Wissen Sie, Nikolai Alexandrowitsch«, sagte der Bankier nach einer recht langen Pause, »vielleicht bin ich ein Vollidiot, aber ich glaube Ihnen. Glaube, dass Sie keine Ahnung haben, wer Sedoi ist und warum er Sie töten will. Ich bin nicht das erste Jahr auf der Welt und weiß, dass die Interessen der Menschen sich manchmal auf die sonderbarste Weise verknäulen. – Ach, was für ein Schuss! Was für eine Schönheit! Dafür kriegt das Schnuckelschnütchen . . .« Nachdem er sich für einen erneuten Treffer belohnt hatte, fuhr Joseph Guramowitsch fort: »Es kann ja sein, dass Sie Sedoi nicht kennen, aber er kennt Sie. Ausgerechnet Schurik hat er auf Sie angesetzt – das ist keine Currywurst. So sehr will Herr Sedoi Sie an Ihrem Vorhaben hindern. Und das bedeutet: Sosso – so nennen mich meine Freunde, Nikolai Alexandrowitsch – will Ihnen in genau dem gleichen Maß bei Ihrem Vorhaben helfen, egal, um was für eins es geht. Apropos, was haben Sie denn überhaupt vor? Warum sind Sie nach Moskau gekommen? Aber bitte ehrlich.«
Nicholas antwortete und zählte dabei an den Fingern ab:
»Ich will eine alte Handschrift im Archiv lesen und die Spuren meines Vorfahren Cornelius von Dorn suchen, der vor mehr als dreihundert Jahren gelebt hat. Ich will Material für ein Buch sammeln. Das ist alles, weiter nichts . . .«
Er spürte selber, dass seine Worte dumm und wenig überzeugend klangen, aber Sosso hörte aufmerksam zu, dachte nach und nickte mit dem Kopf.
»Ja, dann suchen Sie mal, und sammeln Sie mal. Ich weiß nicht, womit Ihr verehrter Vorfahre Sedoi so in die Quere gekommen ist, aber führen Sie Ihr Vorhaben zu Ende. Und ich werde Ihnen dabei jede erdenkliche Hilfe leisten. Wirklich jede«, unterstrich Gabunija ausdrücklich. »Machen wir uns also an die Arbeit, Professor?«
»Ich bin kein Professor, ich habe nur den Magister in Geschichte«, brummte Nicholas und wog noch einmal das Für und Wider ab.
Aus Russland ausreisen konnte er sowieso nicht. Gut, er könnte mit gefälschten Papieren, die Sosso sicher genauso gut wie Wlad beschaffen konnte, das Land verlassen. Aber was dann? Die Einreise in das United Kingdom mit gefälschten Papieren wäre eine Straftat. Ganz davon zu schweigen, dass das russische Innenministerium ein offizielles Auslieferungsgesuch einreichen könnte, da Nicholas A. Fandorin unter Mordverdacht stand. Es war sehr gut möglich, dass die Behörden Mister Lawrence Pumpkin schon morgen einen entsprechenden Hinweis gäben.
Nein, eine Flucht brachte nichts. Das heißt, er musste in jedem Fall in Moskau bleiben.
Der Grund für alle Missgeschicke lag in dem Brief von Cornelius und in nichts anderem. Und was war das für ein Brief? Der Hinweis auf den Ort, an dem sich das Versteck der so genannten »Liberey Iwans des Schrecklichen« befinden sollte.
Warum hatte man ihm das geraubte Dokument zurückgegeben?
Es gab zwei Möglichkeiten. Entweder die Räuber hatten erkannt, dass es wertlos war. Oder im Gegenteil, sie brauchten den Brief nicht mehr, weil sie sich die darin enthaltenen Erklärungen zu Nutze gemacht und das Gesuchte schon gefunden hatten.
Ach nein, nein! Nicholas zuckte zusammen, als ihm die Lösung kam. Sosso starrte den Engländer an, der auf einmal aus heiterem Himmel anfing, zu gestikulieren und sich an die Stirn zu fassen.
Alles war einfacher und logischer! Die Räuber hatten den Brief gelesen, gesehen, dass er zum Teil chiffriert war (»wie vom fels theo unseres ahnen zum fürstenhof«, soviel unser ahn hugo silnyj toechter hat«, und es war ihnen klar geworden, dass nur ein Spezialist für Geschichte des Geschlechts der von Dorns diesen Code entschlüsseln kann. Sie hatten Nicholas den Brief mit Absicht zugespielt, damit er die Suche aufnahm, und beabsichtigten selbst wahrscheinlich, ihn im Auge zu behalten! Sollte er sich wirklich von ihnen am Gängelband führen lassen, von diesem Mafioso Sedoi und seinen gedungenen Mördern?
Aber man sollte die Sache auch von einer anderen Seite betrachten. Wenn die Banditen sich so sicher waren, dass der Brief einen realen Wert hatte, warum sollte er, ein direkter Nachfahre von Cornelius, nicht dem Ruf seines Ahnen folgen? Schurik lebte nicht mehr. Sedoi hatte erst mal das Nachsehen. Warum sollte er sich nicht selbst auf die Suche nach der »Liberey Iwans« begeben?
Bei der Vorstellung, wie das wäre, wenn er das von Hauptmann von Dorn angelegte Versteck fände, fing Nicholas an zu
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