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Die Bibliothek des Zaren

Die Bibliothek des Zaren

Titel: Die Bibliothek des Zaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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die Mauer zu werfen. In den Fenstern entzündeten sich die Lichter, und man sah Schatten hin und her huschen.
    »Klettert hoch!«, befahl von Dorn und knuffte Walser in den Hintern. »Nehmt den Sack entgegen. Dann klettere ich auch hoch.«
    Der Apotheker kraxelte irgendwie hoch. Als er den Sack in Empfang nahm, wäre er beinah heruntergefallen.
    Eine Tür schlug.
    »Brüder, hier ist er, der Mörder! Da, auf der Mauer!«
    Mit zusammengepressten Zähnen kletterte Cornelius am Strick hoch. Von hinten näherte sich ein Stampfen. Gut war, dass wenigstens Walser auf der anderen Seite verschwunden war, ohne von den Mönchen bemerkt worden zu sein.
    Der Hauptmann krallte sich mit den Händen am Mauerrand fest und zog sich hoch.
    Aber da packten sie den Musketier von unten an den Beinen und zogen an ihm. Er stürzte ab. Und nicht nur ein oder zwei, sondern mindestens sechs Männer warfen sich schwitzend und schnaufend von oben auf ihn.
    ***
    Cornelius von Dorn ging es ausgesprochen schlecht.
    Er zitterte vor Kälte in dem schmalen und engen steinernen Sack, in den die Gefängniswärter des Konstantin-und-Helena-Turms ihn mit dem Kopf vorneweg geschubst hatten.
    Der Turm war berüchtigt, ganz Moskau hatte vor ihm Angst, weil sich hier hinter den dicken Backsteinmauern das Strafgericht befand und darunter der Kerker und die Folterkammer, deretwegen man den Turm im Volk nicht bei seinem schönen eigentlichen Namen, sondern schlicht Folterturm nannte.
    Wegen der nächtlichen Zeit hatte man den auf dem Hof des Metropoliten geschnappten Räuber nicht verhört, sondern ihn bis zum Morgen in die »Ritze« gesteckt, eine Zelle von drei Arschin Länge und einem Arschin Höhe und Breite, so dass man weder aufstehen noch sich hinsetzen noch sich umdrehen konnte. Mehr als vierundzwanzig Stunden hielt es dort kaum jemand aus; einige, die starke Klaustrophobie hatten, hatten dort sogar den Verstand verloren. Die Gerichtsdiener, erfahrene und abgebrühte Männer, wussten: Wer eine Nacht in der »Ritze« verbringt, ist am Morgen beim Verhör lammfromm. Dann hat der Folterknecht weniger Arbeit, der Beamte hat es leichter, und der Schreiber vergeudet weniger Staatspapier für reine Lügen.
    Die ersten fünf Minuten schlug der Hauptmann vor Entsetzen in der Finsternis um sich, prallte aber nur mit dem Hinterkopf gegen etwas Hartes und stieß sich die Ellbogen an den Steinen. Die Tür – bzw. eher eine Ofenklappe als eine Tür – hatten sie hinter ihm zugeschlagen und nur einen kleinen Spalt offen gelassen, damit er nicht erstickte.
    Dann biss von Dorn die Zähne zusammen und zwang sich zur Ruhe. Sein Bruder Andreas hatte, bevor er an die Heidelberger Universität und später ins Kloster ging, oft mit Cornelius, der damals noch ein Jugendlicher war, über die Natur der Angst gesprochen. Der schlimmste Feind der Menschen, das waren laut Andreas weder die zehn Todsünden noch der Satan, sondern es war die Angst. »Die Angst – das ist der wahre Satan, sie ist der Grund für all unser Unglück«, wurde sein großer Bruder nicht müde zu wiederholen. Und weiter: »Niemand macht dir solche Angst wie du selbst. Dabei braucht man gar nichts zu fürchten. Was kann denn schrecklicher sein als der Tod? Nur – der Tod ist gar nicht schrecklich. Er ist nicht nur ein Ende, sondern auch ein Anfang. Das ist wie in einem Buch: Man muss nur ein Kapitel zu Ende lesen, dann beginnt auf der nächsten Seite das nächste. Und je besser dein Buch ist, desto spannender ist das folgende Kapitel.«
    Was hatte er außerdem noch gesagt?
    »Wenn es dir schlecht geht, denk daran: Irgendwann wird das ein Ende haben, und verlier nicht den Mut. Es kommt nicht vor, dass der Mensch etwas nicht mehr aushalten kann – dann erbarmt sich der gnädige Herrgott und ruft die Seele zu sich. Solange er das nicht tut, gib nicht auf.«
    Und Cornelius gab nicht auf.
    Was macht das denn, dieser Steinsack, und dass ich nicht aufstehen kann, redete er sich zu. Und wenn ich mich ins Bett gelegt hätte, um zu schlafen, warum sollte ich dann aufstehen? Ruh dich mal bis zum Morgen aus.
    Er versuchte sich vorzustellen, über seinem Kopf sei kein steinernes Mauerwerk, sondern unendlicher Raum und der hohe Nachthimmel. Wenn er nicht aufstand, so lag das nicht daran, dass das unmöglich war, sondern er wollte es einfach nicht. Ihm ging es auch so blendend. Vorher hatte man ihn über die Straße geschleift, getreten und geschlagen, jetzt ging es ihm gut, er hatte seine Ruhe, und es war auch gar

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