Die Bibliothek des Zaren
Wladimir Iwanowitsch. »Die Burschen gehen solange nach draußen.«
»Sie?!«, sagte Maxim Eduardowitsch und sperrte den Mund auf, als Fandorin sich auf dem Vordersitz niedergelassen hatte und sich zu ihm umdrehte. »Sie sind also kein Ausländer? Sind Sie vom Föderalen Sicherheitsdienst? Warum hat man mich festgenommen? Was für ein Verdacht liegt gegen mich vor? Sie hätten mir beinah den Arm ausgerenkt! Das ist ein Miss. . .«
»Missverständnis?«, fiel ihm Nicholas ins Wort, der keinerlei Gewissensbisse ab des ausgerenkten Arms des hinterlistigen Archivars empfand. »Dass man mich in Ihrer gottgefälligen Institution vom Dach geworfen hat, ist das vielleicht auch ein Missverständnis?«
Bolotnikow blinzelte ein paarmal.
»Ja, ich habe davon gehört. Aber . . . aber was habe ich damit zu tun? Ich war doch zu dem Zeitpunkt gar nicht im Archiv. Sie werden sich erinnern, ich war Tennis spielen gegangen.«
»Und hatten es so eilig, dass Sie sich noch nicht einmal für die linke Hälfte des Schriftstücks interessiert haben . . .«, sagte der Magister und machte eine Pause. »Und das, wo auf der rechten Seite Iwans Liberey und Samoley erwähnt sind. Sicher, woher sollte ein Spezialist für russische Mediävistik auch wissen, was diese merkwürdigen Wörter bedeuten?«
Die Ironie tat ihre Wirkung. Der Archivar wurde noch bleicher, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und schluckte.
»Was sagen Sie, Kollege?«, fragte Fandorin und betonte das letzte Wort abfällig. Er würde diesem Mozart jetzt liebend gerne nicht nur den Arm, sondern den Kopf umdrehen. Schade, dass seine Erziehung so etwas nicht zuließ.
»Ich . . . Ich schwöre, ich weiß nicht, wer versucht hat, Sie umzubringen, und warum«, sagte Maxim Eduardowitsch leise. »Ich war selbst völlig schockiert, als ich davon erfuhr. Und habe Angst gekriegt. Das heißt, ich habe eine bestimmte Vermutung, aber . . .«
Er blickte auf die jungen Männer, die regungslos auf beiden Seiten des Autos standen.
»Hören Sie, wer sind Sie? Diese Männer sind doch nicht vom Föderalen Sicherheitsdienst, stimmt’s?«
Fandorin fiel eine wunderbar passende Wendung aus einem alten sowjetischen Film ein, den er mal bei einer Retrospektive in Chelsea gesehen hatte:
»Die Fragen stelle ich hier.«
Das wirkte! Der Archivar zog den Kopf ein und nickte zweimal.
»Schon gut, schon gut. Ich erkläre Ihnen alles von A bis Z . . . Sie haben natürlich Recht: Als ich vor drei Jahren das Fragment aus Infernograd bekam, war ich schrecklich interessiert an diesem Fund. Die Erwähnung der ›Mathematik‹ des Samoley, dieses Buch aus dem Verzeichnis von Dabelow, das sonst nirgends in den Quellen erwähnt wird, in Verbindung mit den Worten: ›So findest du Iwans Libereys hat bei mir wie ein Blitz eingeschlagen. Ich konnte eine Woche lang nicht essen und nicht schlafen! Sie sind selbst Historiker und werden das verstehen . . . Aber das lag auch daran, dass ich in diesem Ereignis einen Fingerzeig des Schicksals sah, ein mystisches Zusammentreffen! . . . Moment, ich erkläre das gleich. Entschuldigen Sie, ich bin aufgeregt, deswegen geht alles ein wenig durcheinander. Damals begann bei uns gerade mal wieder das ›Liberey-Fieber‹, wie ich das nenne, Journalisten hatten diese alte Story wieder ausgegraben, es fanden sich prompt Enthusiasten, die private Gelder sammelten, es wurde sogar eine städtische Kommission gebildet. Und ich war der Experte, der diese Kommission beriet. Ist das nicht ein Zufall? Nein, es ist nichts Übernatürliches dabei, dass man gerade mich gerufen hat – ich kann ohne falsche Bescheidenheit sagen, dass ich ein führender Spezialist für Archivdokumente und die Buchkunst jener Epoche bin. Und dass diese viel verheißende Hälfte des Schriftstücks gerade bei mir in der Abteilung gelandet ist, ist auch das Natürlichste der Welt. Aber was mich frappierte, war die zeitliche Koinzidenz! Verstehen Sie, kurz zuvor hatte ich, weil ich den dilettantischen Eifer der Liberey-Sucher satt hatte, in der Kommission einen Vortrag gehalten, in dem ich überzeugend darlegte, dass die Bibliothek Iwans des Schrecklichen nicht existiert und nie existiert hat. Und dann auf einmal so was! Mir fällt ein höchst gewichtiger Beweis dafür in die Hände, dass die Liberey existiert hat und irgendwo in Moskau versteckt war. Wenn das kein Wunder ist! Verzeihung, aber sieht das nicht aus wie göttliche Vorsehung?«
All das klang durchaus glaubhaft, nur tauchte sofort eine Frage
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