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Die Bibliothek des Zaren

Die Bibliothek des Zaren

Titel: Die Bibliothek des Zaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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ringe gesteckte ketten, riesige haengeschloesser mit auf draht angebrachten bleysiegeln, vnd jene zimmer haben je eyn fenster, vnd diese haben gitter ohne riegel.« Von diesem Versteck, das sich irgendwo in der Nähe des Tajnizki-Turms befinden sollte, hatte Ossipow angeblich vor vielen Jahren von einem Sekretär der Großen Staatskasse namens Makarjew gehört, der jenen Keller entdeckt hatte, als er auf Anweisung der Zarentochter Sofja die unterirdischen Kremlgewölbe inspizierte.
    Ende des vorigen Jahrhunderts begann eine systematische Suche nach der Liberey.
    1891 suchte der Straßburger Forscher Eduard Tremer mit Genehmigung von höchster Stelle das Versteck in der Nähe der St. Lazarus-Kirche und im Ostteil des früheren Zarenpalastes, dessen Kellerräume aus weißem Stein die schlimmsten Moskauer Brände unversehrt überstanden hatten.
    Dann gruben der Direktor der Rüstkammer Fürst Schtscherbatow und Professor Sabelin am Borowizki-Hügel, allerdings nicht besonders eifrig, weil sie nicht an die Existenz (und noch weniger an die Unversehrtheit) der Liberey glaubten.
    In den dreißiger Jahren suchte der Archäologe Ignati Stellezki, der sein ganzes Leben dieser Suche widmete, hartnäckig nach der verschollenen Bibliothek. Aber der Kreml war damals Sperrgebiet, und man gewährte dem Enthusiasten keine besonders große Bewegungsfreiheit.
    Dann gab es noch zwei Wellen: Anfang der sechziger Jahre und vor kurzem, vor zwei, drei Jahren, als bei der Stadtverwaltung sogar eine eigene Kommission eingerichtet wurde. Den Zeitungsartikeln nach zu urteilen (aus Gründen der Konspiration forderte Fandorin gleich mehrere Jahrgänge der entsprechenden Zeitungen an), wurden in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts neue Hypothesen aufgestellt: Iwan der Schreckliche habe die unschätzbare Sammlung nicht im Kreml, sondern auf seinem Landsitz Alexandrowa Sloboda oder in einem seiner Lieblingsklöster versteckt.
    Was folgte aus alldem?
    Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus: fast nichts. Direkte Beweise für die Existenz der Liberey gab es nicht, nur solche aus zweiter Hand (das Original des Dorpater Verzeichnisses zum Beispiel war unwiderruflich verloren). Seriöse Forscher nahmen an, dass die Bibliothek anfangs tatsächlich existierte und dann nach und nach verschenkt wurde. Oder bei einem Brand den Flammen zum Opfer fiel. Oder in einem feuchten Keller verfaulte.
    Und erst jetzt, am Ende des Jahrtausends, war doch ein untrüglicher Beweis aufgetaucht, und nur ein einziger Mensch verfügte darüber: Nicholas A. Fandorin, ein unbekannter Magister der Geschichte. Er wusste mit Sicherheit und konnte es belegen, dass die Liberey noch hundert Jahre nach Iwan dem Schrecklichen, am Ende des siebzehnten Jahrhunderts, existiert hatte und irgendwo in dem geheimen Keller eines Hauses, das in irgendei ner Schwarzen Sloboda hinter irgendeinem Steintor stand, versteckt war.
    Schon allein das war eine historische Sensation erster Güte. Und nicht nur eine historische – die Bekanntmachung dieser Entdeckung würde mit Sicherheit neuen Wirbel verursachen. Wenn man sich vorzustellen versuchte, auf welche Geldsumme Iwans Büchersammlung heute geschätzt würde, so müsste man wohl von Milliarden ausgehen. Sofort würden neue Kommissionen entstehen, wieder würde gesucht und gegraben werden. Und Stattdessen (öffentliche Vorträge, Pressekonferenzen, Fernsehen, Doktortitel, Aufnahme in die Royal Historical Society) versteckte er sich wie ein Gesetzesbrecher und konnte sich ausmalen, wer ihn eher finden würde: die Miliz oder die Gangster.
    Am sechsten Tag (jawohl, schon am sechsten, denn Nicholas arbeitete zügig), hatte er alle Literatur, die auch nur irgendwie mit dem Thema zu tun hatte – einschließlich der Beschreibungen des Alltagslebens der Moskowiter und der Erinnerungen von Einwohnern der Ausländervorstadt – studiert und teilweise exzerpiert. Nun war die Zeit der Auswertung und Analyse gekommen.
    Die erste Schlussfolgerung ließ nicht lange auf sich warten. Sie lag auf der Hand, kann man sagen.
    Wie kommt Nicholas A. Fandorin eigentlich darauf anzunehmen, dass er allein den wissenschaftlichen Wert von Cornelius’ Brief begreift? Diejenigen, die die Liberey finden wollen, haben den Sinn des Wortes »Samoley« genauso gut wie er verstanden. Und wenn man berücksichtigt, dass Nicholas als professioneller Historiker (der zudem, dem Hauptmann von Dorn sei Dank, nicht wenige Bücher über die vorpetrinische Zeit gelesen hatte)

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