Die Bibliothek des Zaren
Rede war Maxim Eduardowitsch völlig außer Atem.
Nicholas sagte sich: Man darf sich von diesem Goldsucherfieber nicht anstecken lassen. Es geht jetzt nicht um historische Entdeckungen, sondern um sehr viel gröbere und unappetitlichere Dinge: um Hinterlist, Niedertracht und Mord.
»Ich verstehe«, sagte der Magister kühl. »Sie haben mich nach Moskau gelockt und Sedoi um Hilfe gebeten.«
»Wen?«, fragte Bolotnikow nach, dessen begeisterter Ton sich gelegt hatte. »Wen?«
»Wahrscheinlich hält nicht der Magnat selbst, sondern einer seiner Helfer den Kontakt mit dem Archivar«, dachte Fandorin. »Am Wesen der Sache ändert das natürlich nichts.«
»Wie hoch ist Ihr Salaire?«, erkundigte er sich kalt.
»Was?«, fragte der Archivar, der sich noch mehr wunderte. »Sie meinen mein Gehalt? Ich glaube dreihundertneunzigtausend oder zweihundertneunzigtausend? Ich weiß es nicht genau . . . Aber warum fragen Sie?«
»Und von diesem Geld kaufen Sie in teuren Geschäften Kleidung, haben sich eine neue Wohnung und einen Sportwagen angeschafft?«-
Bolotnikow machte ein erschrecktes Gesicht. Aha! Er hatte ins Schwarze getroffen.
»Sie waren das also, der mich bei Werschinin verraten hat! Na klar, wer denn sonst? Er hat mich doch auch so listig angeschaut. Ruft mich zu sich und sagt: ›Heureka, Maxim Eduardowitsch! Ich weiß, woher wir das Geld nehmen! Ich bin gar nicht so ein Tollpatsch, wie Sie meinen. Wir erledigen Aufträge ausländischer Wissenschaftler und lassen uns das ordentlich bezahlen, in Westgeld! So!‹ Und er hätte mir fast zugezwinkert. Und einen Tag vorher waren Sie bei ihm. Haben Sie gepetzt? Wie haben Sie erfahren, dass ich mir mit privaten Aufträgen etwas dazuverdiene?«
»Sie erledigen Auftragsarbeiten?«, fragte Fandorin verdutzt.
»Schon lange. Wovon soll ich denn sonst leben? Von den zweihundertneunzigtausend? Die Aufträge nehmen natürlich Zeit in Anspruch und lenken mich von meinen Recherchen ab, aber ich bin doch kein Asket oder Bettelmönch. Geschichte ist gut, aber man muss ja schließlich auch irgendwie leben. Ich bin ein erstklassiger Spezialist, und meine Dienste sind teuer.«
Nicholas guckte finster. Diese unerwartete Nachricht entzog der schönen Version von einer Verbindung zwischen dem Archivar und den Gangstern von Grund auf den Boden.
Nein! Nicht ganz!
»Sie lügen«, sagte der Magister wütend, als er sich an das andere wichtige Indiz erinnerte. »Wenn Ihnen so viel an der Suche nach der Liberey liegen würde, wären Sie nicht zu Ihrem Tennisturnier gefahren! Nein, Sie wussten ganz genau, dass ich umgebracht werden soll und Sie den Text innerhalb kürzester Zeit bekommen würden! Sie sind ein Mörder! Nein, noch mieser – der kaltblütige Komplize eines Mörders!«
Fandorin wurde vor Wut schwarz vor den Augen – er erinnerte sich an die Bemerkung »Schade um das Vögelchen!« und seinen Flug vom Dach, beugte sich über den Sitz und packte Bolotnikow am Kragen. Ein zivilisierter Mensch, ein überzeugter Anhänger der Political Correctness – und nun auf einmal ein solcher Ausbruch. Das ist die schädliche Wirkung der wilden Moskauer Luft.
Nicholas fasste sich sofort wieder und ließ los, aber von beiden Seiten kamen schon die Bodyguards ins Wageninnere gestürzt; offensichtlich konnten sie durch die getönten Scheiben sehen. Der eine bog Bolotnikows Kopf nach hinten, der andere packte ihn an den Armen.
»Loslassen!«, krächzte der halb erstickte Archivar. »Ich brauchte Ihren Brief nicht! Ich habe ein fotografisches Gedächtnis! Ich habe das extra gelernt! Ich brauche mir eine Seite nur zwanzig Sekunden anzusehen, um sie mir zu merken. Soll ich Ihnen den Brief aus dem Kopf zitieren? ›Dieses vermaechnisz ist fuer meinen son Nikita so selbiger verstand angenommen mich der herr dagegen abberufen vnd mir den weg nach Moskau nicht geweyset vnd im fall du mit der Vernunft nicht schaffest .. .‹«
Fandorin bedeutete den jungen Männern, es sei alles in Ordnung, er brauche ihre Hilfe nicht. Sie lockerten sofort ihren Stahlgriff, schlugen die Wagentüren zu, und die beiden Kollegen blieben wieder unter sich.
»Sie haben niemand von mir erzählt?«, fragte Nicholas, der wieder nichts mehr verstand, leise und fügte hinzu: »Ehrenwort?«
»Wem denn?!«, rief Bolotnikow aus, der sich an die Kehle fasste. »Und vor allem, wozu? Ich habe das Gefühl, Ihnen ist nicht richtig klar, was es heißt, die Liberey zu finden. Das ist eine Entdeckung, wie es sie in der
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