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Die Bibliothek des Zaren

Die Bibliothek des Zaren

Titel: Die Bibliothek des Zaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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wirklich die Zeit nicht ungenutzt verstreichen lassen. In der einen Woche, da er den vollständigen Brieftext kannte, hatte der Archivar einen systematischen Plan für das weitere Vorgehen ausgearbeitet, und zwar einen wunderbar einfachen und logischen.
    »Erstens, die Angaben zum genauen Ort des Verstecks sind verschlüsselt. Zweitens, es gibt natürlich längst nicht mehr das Haus mit den so und so vielen Fenstern. Das unterirdische Depot befindet sich unter einigen Metern Kulturschicht. Aber die Liberey ist immer noch dort, daran besteht kein Zweifel – wenn sie gefunden worden wäre, wären die Bücher aus Dabelows Verzeichnis garantiert in Bibliotheken oder Privatsammlungen aufgetaucht – sie sind einfach zu wertvoll. Das unbedeutendste dieser Manuskripte würde heute Dutzende, nein Hunderttausende von Dollar kosten. Und wenn man berücksichtigt, dass sowohl die byzantinischen Kaiser wie auch die Moskauer Zaren alte Handschriften gewöhnlich mit kostbaren Beschlägen versahen, die reich mit Rubinen, Saphiren und Granulation verziert waren . . .« Maxim Eduardowitsch unterstrich seine Worte, indem er ausdrucksvoll Daumen und Zeigefinger aneinander rieb. »Nun, Sie wissen ja schon. Nein, nein, Fandorin, die Liberey liegt nach wie vor unter der Erde, in diesem so genannten ›Altyn-Tolobas‹.«
    Die Partner saßen in der Kijewskaja-Uliza bei Nicholas. Sie hatten gar nicht gemerkt, dass in den Fenstern der Nachbarhäuser zuerst die Lichter an – und dann ausgegangen waren. Die Zeit hatte einen ihrer Lieblingsstreiche gespielt: Sie war auf einmal stehen geblieben. Sie hatten gerade erst auf dem Tisch das Material ausgebreitet, das sie aus Bolotnikows Wohnung mitgenommen hatten, sie hatten gerade erst ein paar Exemplare des Schriftstücks mit unterschiedlichem Vergrößerungsgrad ausgedruckt, und schon war das Morgengrauen nicht mehr fern.
    »Und was ist ›Altyn-Tolobas‹?«, fragte der Magister den Doktor.
    »Keine Ahnung. Offenbar so etwas wie ein steinerner Unterbau zur Aufbewahrung von besonders wertvollen Gegenständen. ›Altyn‹ bedeutet ja im Türkischen ›Gold‹.«
    »Ich weiß, ich weiß«, sagte Fandorin nickend.
    »Was ›Tolobas‹ heißt, ist unbekannt. Ich habe alle Wörterbücher durchforstet und nichts gefunden. Während der tatarischen Fremdherrschaft waren in Russland jede Menge Lehnwörter geläufig, die später dann immer mehr aus dem Gebrauch kamen. Manche sind spurlos verschwunden, auch solche aus den Turksprachen. Das ist nicht so wichtig, denn der Sinn ist ja im Großen und Ganzen klar. Und auch unsere Aufgabe ist klar. Ich würde sie so formulieren . . .«
    Der Archivar starrte konzentriert aus dem Fenster und blinzelte erstaunt mit den Augen – er hatte erst jetzt gemerkt, dass die Nacht schon lange hereingebrochen war, aber er vergaß sofort wieder die Wunder der Natur und wandte sich erneut seinem Gesprächspartner zu.
    »Wir müssen wenigstens ungefähr herausfinden, bis zu einer Genauigkeit von hundert Metern, was für ein Grundstück im Brief des Hauptmanns von Dorn beschrieben ist.«
    »Mehr nicht«, fragte Nicholas ironisch zurück, denn er hielt diese Aufgabe für gar nicht so leicht. »Und was bringt uns eine Genauigkeit von hundert Metern? Das ist doch ein ganzer Hektar.«
    »Na und? Wenn wir schlagende Beweise haben, kann man jedwede Kräfte und Instanzen bei der Arbeit zu Hilfe ziehen! Die werden noch bei uns Schlange stehen! Wo es möglich ist, graben wir, wo man nicht graben kann, setzen wir den Bohrer an, entnehmen Bodenproben. Das heißt ja nicht im Kremlhügel graben, unter dem Hintern des Präsidenten, sondern jenseits vom Gartenring! Das ist etwas völlig anderes.«
    »Wieso sind Sie sich sicher, dass es jenseits des Gartenrings ist?«
    Maxim Eduardowitsch verdrehte mit Leidensmiene die Augen, was von seiner Seite nicht sonderlich höflich war, und erklärte dem unwissenden Ausländer:
    »Der Gartenring verläuft dort, wo früher einmal der Skorodom lag. Skorodom ist ein anderer Name für die Altstadt Semljanoi Gorod, die Grenze im siebzehnten Jahrhundert, die den Stadtrand von Moskau bildete.«
    »Von der Altstadt Semljanoi Gorod weiß ich«, murmelte der beschämte Nicholas, »ich wusste nur nicht, dass sie auch Skorodom heißt. Skorodom, also ›Schnell-Haus‹, ein merkwürdiger Name . . .«
    »Das liegt daran, dass man außerhalb der Stadtmauer die Häuser auf die Schnelle baute, wie es gerade kam – die Krimtataren oder irgendwelche Nogaier würden sie ja

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