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Die Bibliothek des Zaren

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Titel: Die Bibliothek des Zaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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Zeit. Gleich klingelt der Wecker, er muss aufstehen, sich die Zähne putzen und seine Morgengymnastik machen.
    In der Hand des im Traum erschienenen Killers loderte eine kleine Feuerkugel auf, die sofort wieder erlosch. Die Taschenlampe tat auf einmal einen Ruck, das Glas platzte und zerbrach in kleine Splitter. Das leise Klirren wurde von einem widerwärtigen Knacken überlagert, das er kannte.
    »Es gibt noch eine andere Möglichkeit, die noch weniger angenehm ist«, dachte Nicholas, der jetzt völlig im Dunkeln stand. »Das hier ist kein Traum, sondern Wahnsinn. Und das ist auch nicht weiter verwunderlich nach alldem, was in den letzten Tagen passiert ist. Na und, dann werde ich wenigstens nicht wegen Mord ins Gefängnis gesteckt, sondern ärztlich behandelt und möglicherweise sogar geheilt.«
    »Was ist da los?«, hörte man Bolotnikow schreien. »Haben Sie etwa die Taschenlampe fallen lassen? Sie sind aber auch wirklich ein Tollpatsch! Ich leuchte Ihnen gleich.«
    Was war das? Es hörte sich an wie das Tappen langsam näher kommender Schritte.
    Nicholas wich zurück – dorthin, wo aus der Grube im Boden das zerstreute, in den Staubkörnern tanzende Licht strömte.
    Trotz Erziehung und Überzeugungen kroch irgendwie aus seiner Kindheit oder aus den Tiefen des Unterbewusstseins wie eine gefleckte Schlange eine dritte Möglichkeit auf: ein Gespenst.
    Fandorin hatte nie an außerirdische Kräfte geglaubt, an umherwandelnde Tote oder ähnlichen Blödsinn, aber jetzt bekam er auf einmal unsägliche Angst. Ihm wurde schlecht, er brach in kalten Schweiß aus. Was kam da nur aus dem Dunkeln auf ihn zu?
    Nicholas wich zurück bis zu der Mulde, um einen lebendigen Menschen berühren zu können. Er packte Maxim Eduardowitsch an der Schulter und rüttelte ihn.
    »Was soll das denn, zum Teufel? Was . . .«, knurrte der auf allen vieren hockende Archivar gereizt, drehte sich um und rang nach Luft.
    Nicholas konnte sein Gesicht nicht sehen, weil die Lampe nach unten leuchtete, in das Loch. Bolotnikow hatte also die Bitte seines Kollegen nicht erfüllt, aber das spielte jetzt auch keine Rolle mehr.
    »Wer ist das?«, fragte Eduardowitsch barsch. »Wen haben Sie da mitgebracht?«
    Jedenfalls ist es kein Wahnsinn, wurde Fandorin klar, nur erleichterte ihn das nicht. Er drehte sich langsam um. Das Gespenst stand neben ihm, am Rand der Grube. Es war jetzt nicht mehr dreidimensional, sondern hatte sich in eine schwarze Silhouette verwandelt, aber es war zweifelsohne das Phantom Schurik.
    Der arme Bolotnikow verstand noch nichts. Er dachte offenbar, ein Penner sei in den Keller gekommen, und war wütend.
    »Wie ist der hierher gekommen? Wer ist das? Na, unsere Wachmannschaft ist aber schwer auf Zack. He, ihr Schwarzenegger da!«, brüllte er lauthals und bekam dann keine Luft mehr, weil der außerirdische Schurik sich hingehockt hatte und dem Archivar den Mund zuhielt.
    Nicholas hatte die glitzernde Brille des Gespenstes direkt vor seinen Augen.
    »Die Katze sucht Speise, Mäuse, seid leise«, sagte das Gespenst und lachte leise auf. »Ciao, Kolja. War doch super, wie wir dich da veräppelt haben, oder? Ach, adieu, lebt wohl, ich sterbe.« Er röchelte, öffnete die Lippen, und ein dunkler Strahl ergoss sich auf sein Kinn. Schurik unterdrückte ein Kichern, spuckte etwas aus dem Mund und erklärte: »Granatapfelsaft in einer Plastikverpackung. Hab ich mitgebracht, damit du was zu lachen hast. Und du bist da wirklich drauf reingefallen. Zum Totlachen!«
    Dann drehte er sich zu Maxim Eduardowitsch um, der mit der Hand vorm Mund wie versteinert dahockte.
    »Na, du Filzlaus, hast du deinen Busenfreund erkannt? Na klar. Und hast die Hosen voll. Na klar.« Schurik nahm die Hand weg und wischte sie angeekelt an seinem Hemd ab. »Du wolltest also Sedoi reinlegen. Keine gute Idee, Max, wirklich. Erst bringst du ihn auf den Geschmack, machst ihm Hoffnung, steckst die Kohle ein, und das nicht zu knapp, und dann überlegst du es dir auf einmal anders und willst alles selber einsacken. Sedoi ist dir böse, richtig böse. Soll ich dir ausrichten.«
    Bei diesen Worten hob Schurik schnell die Hand, nicht die, mit der er bis eben noch Bolotnikow den Mund zugehalten hatte, sondern die andere, in der er ein langes schwarzes Rohr hatte (Fandorin kannte es gut, nur zu gut), hielt es mit dem Schalldämpfer direkt an die Stirn von Maxim Eduardowitsch, und einen Moment später machte der Kopf des Archiv-Mozarts einen Ruck, als wolle er sich vom Hals

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