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Die Bibliothek des Zaren

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Titel: Die Bibliothek des Zaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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seine Augen an die Dunkelheit gewöhnten. Er sah ein paar lange Tische, an denen schweigende, nein, nicht schweigende, sondern sich leise unterhaltende Leute saßen, bärtige, abgerissene Gesellen. Sie hatten Tonkrüge oder unterschiedlich große quadratische Karaffen aus dickem grünem Glas vor sich. Sie tranken häufig und warfen dabei den Kopf ruckartig in den Nacken. Mit den Fingern angelten sie gehäckselten Kohl aus Schüsseln. In der hinteren Ecke war eine Theke, hinter der der Schankwirt döste.
    Der Hauptmann wollte auf ihn zugehen, hielt aber plötzlich inne, weil er seinen Augen nicht traute. Direkt neben der Tür kniete ein dreizehnjähriges, mit einem dreckigen Hemd bekleidetes Mädchen auf dem Boden, knabberte Sonnenblumenkerne und spuckte die Schalen auf den Boden. Sie war sommersprossig, hatte Brauen, die bis zu den Ohren mit Kohle nachgezogen waren, rußgeschwärzte Wimpern und rot geschminkte Wangen. Aber was Cornelius frappierte, war nicht diese wilde Bemalung, sondern die Farbe der bis zum Nabel reichenden ungekämmten Haare. Es war genau die gewünschte Farbe: kupferrot, ideal für die »Laura«! Die Begegnung mit Moskowien begann mit einem guten Vorzeichen.
    Von Dorn bückte sich, nahm mit zwei Fingern eine Haarsträhne hoch und prüfte sie. Einwandfrei. Wenn er drei, nein vier Fuhren im Jahr nach Amsterdam schickte, dann wären das in vier Jahren . . . vierundzwanzigtausend Gulden! Gib mir nur Zeit, mein wunderbarer Wecker, schon bald wirst du eine Wohnstatt finden, die deiner würdig ist.
    Das Mädchen musterte den vor sich hinflüsternden Ausländer von unten bis oben, zog seinen Kopf nicht weg und spuckte weiter die Schalen auf den Boden. Jetzt sofort ihr Haar zu kaufen, hatte natürlich keinen Sinn – zumal es so aussah, als ob in Moskau kein Mangel an Rothaarigen herrschen würde. Aber er könnte sich ja schon einmal nach dem Preis erkundigen, damit er eine Vorstellung davon hätte, was ihn eine Fuhre kosten würde.
    Cornelius zupfte an den Haaren und zeigte mit dem Finger darauf. Dann wandte er eins der zehn unentbehrlichen Wörter an, die er unterwegs auswendig gelernt hatte:
    »Potschom?«
    Die Antwort kam nicht von dem Mädchen, sondern von einem Kerl mit verfilztem Bart und einer schwarzen Binde quer übers Gesicht.
    »Poluschka.«
    Er ließ sein nacktes Zahnfleisch sehen, machte eine unglaublich obszöne Geste und sagte noch etwas Längeres. Der Hauptmann verstand das Wort »Kopejka«. Das Mädchen schniefte mit der Nase und zog auf einmal den Hemdsaum bis zu den ausgemergelten Schlüsselbeinen hoch. Was das sollte, war unklar. Sie war unter dem Hemd ganz nackt, aber aufgrund ihres geringen Alters war eigentlich nichts an ihr dran. Wahrscheinlich war sie nicht ganz bei Trost, vermutete Cornelius und dachte an etwas anderes.
    »Der Bärtige wird gesagt haben, für eine Poluschka kann man einen Teil der Haare abschneiden, für eine Kopeke kriegt man sie in voller Länge. Eine Poluschka, das ist eine Viertelkopeke, für einen Gulden geben die Wechsler zwanzig Kopeken. Schätzungsweise zwei Pfund Haare sind das hier.« Vom Multiplizieren und den Zahlen, die dabei herauskamen, begann Cornelius’ Herz zu hämmern. Das war aber billig!
    Der fiese Kerl ließ nicht ab, stieß ihm in die Seite, drängte ihm das Mädchen auf alle mögliche Weise auf. Der Hauptmann gab ihm eins aufs Ohr, damit er aufhörte, und ging an die Theke . . .
    Er hätte jetzt mit Vergnügen eine halbe Hammelkeule oder einen ganzen Kapaun verspeist, aber offenbar bekam man hier kein warmes Essen. Auf der Theke stand inmitten trüber übel riechender Pfützen eine Schale mit schleimigen Pilzen, ein Schüsselchen mit einer schwarzen, klebrig aussehenden Masse, ein paar Scheiben Graubrot lagen da, und das Sauerkraut war einfach in Häufchen auf das ungehobelte Holz gekippt.
    Der Schankwirt schlief, die Wange auf der Theke, den graublauen Rauschebart sorgfältig über die Schüsselchen und den Kohl drapiert. Während er überlegte, was er essen sollte, nahm Cornelius zerstreut eine fette Laus von dem Bart und zerdrückte sie mit den Fingernägeln. Außer Brot und Wein war hier nichts aufzutreiben.
    Er hob die Hand, um dem Schankwirt auf die Schulter zu klopfen, aber es stellte sich heraus, dass dieser gar nicht schlief, sondern mit gerunzelten Augenbrauen etwas aufmerksam studierte, und zwar nicht das Gesicht des fremden Mannes, sondern die Tasche, die über dessen Schulter hing. Der Hauptmann nahm eine ordentliche Scheibe

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