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Die Bibliothek des Zaren

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Titel: Die Bibliothek des Zaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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Brot, warf eine silberne Kopeke auf die Theke und sagte in der Hoffnung, dass der Bärtige das verstand, auf Polnisch:
    »Wodka!«
    Die Kopeke steckte sich der Schankwirt in den Mund – es klimperte richtig hinter seiner dicken Backe, mit dem Getränk dagegen ließ er sich Zeit: Er ging in einen kleinen Nebenraum hinter der Theke und brachte keine Flasche, sondern einen Tonkrug. Für eine Kopeke war das reichlich wenig. Von Dorn roch daran (na, das ist vielleicht ein Gesöff, schlimmer als französischer Calvados), kippte die trübe Flüssigkeit in einem Zug runter und klopfte mjt dem leeren Krug auf das Holz: noch eine Runde.
    Der Wodka war stark. Die hochrote Visage des Schankwirts zerfloss in alle Richtungen, nahm Ähnlichkeit an mit der amerikanischen Frucht namens Tomate, und der Boden unter den Füßen des Hauptmanns kam ins Schwanken. Er griff nach der Theke. Die Muskete fiel scheppernd zu Boden.
    »Was hast du mir zu trinken gegeben, du Judas?«, fragte Cornelius die Tomate und schloss die unerträglich schweren Lider. Als er sie einen Augenblick später wieder öffnete, da erblickte er aber schon nicht mehr die gemeine Fresse des Schankwirts, sondern den friedfertigen Maihimmel und Lämmerwölkchen.
    Nicht nur ins Gesicht blies ihm ein Lüftchen, nein, der ganze Körper des Hauptmanns war umweht, was zwar angenehm, aber auch verwunderlich war. Er fuhr sich mit der Hand über die Brust, den Bauch und darunter und begriff, dass er völlig nackt war. In den Rücken stachen Grashalme. Eine Ameise war auf seine Wimpern gekrochen.
    Die dreckige Pinte, der hinterlistige Wirt und das russische Dorf hatten sich wie ein böser Spuk blitzartig in Luft aufgelöst.
    »So lebten unsere Urahnen im seligen Garten Eden und waren nackt und glücklich«, dachte Cornelius, wobei er allerdings wusste, dass er sich nicht im Paradies befand, denn, obschon nackt, fühlte er sich nicht besonders glücklich – dazu tat seine Schläfe zu weh. Und als er versuchte aufzustehen, erbrach er grüne Galle.
    Die beiden Jungen, die am Rand des staubigen Weges saßen und schweigend den sich krümmenden Mann beobachteten, glichen auch nicht gerade Engeln, obwohl sie doch von derselben urtümlichen Nacktheit waren wie Cornelius. Es handelte sich wohl um dieselben zwei Kinder, die vorhin hinter der Hecke hervorgekommen waren und ihn angestiert hatten.
    »Wo bin ich?«, fragte der Hauptmann krächzend. »Was haben sie mit mir angestellt?«
    Einer der Jungen kratzte sich am Hinterkopf. Der andere sagte etwas. Beide lachten, standen auf und entfernten sich hüpfend, den Weg entlang, wobei sie einander mit Zweigen eins über den Hintern zogen und schrien: »Hej, hej!«
    Der Weg führte nach unten, zu einer grauen Häusergruppe, die Cornelius sofort als das Dorf Neworotynskaja identifizierte. Es hatte sich also nicht in Luft aufgelöst, sondern stand an derselben Stelle wie vorher, und auch das Rauchwölkchen hing noch genauso träge über der Schänke.
    Von Spuk oder Zauberei konnte also keine Rede sein. Hatten erfahrene Leute Herrn von Dorn in Riga nicht gesagt: Herr Hauptmann, wartet auf eine Gelegenheit, reist bloß nicht allein durch Moskowien – man wird Euch ausrauben oder umbringen, und kein Hahn wird danach krähen. Aber Cornelius, dieser hochmütige Mann, er hatte ja nicht hören wollen. Und nun hatte er die Bescherung: Kaum hatte er die Grenze überschritten, da war er auch schon vergiftet, ausgeraubt, nackt ausgezogen und dem Tod am Wegrand aus gesetzt.
    Er hatte weder Pferde noch eine Waffe noch Geld; aber am schlimmsten war, dass sein Geleitbrief weg war.
    Sollte er sein Recht suchen? Aber wer würde einem Mann glauben, der weder einen Ausweis noch Zeugen hatte und dessen Bekleidung sich auf seinen Schnurrbart beschränkte? Und wie sollte er sich in der fremden Sprache verständlich machen? Und, was die Hauptsache war, bei wem sollte er sich denn beschweren: bei dem Schweinsgesicht, vor dem er an der Grenze abgehauen war?
    Von Dorn setzte sich hin und raufte sich die kurz geschnittenen kastanienbraunen Haare.
    Und was jetzt: vor die Hunde gehen?

DRITTES KAPITEL
    Warum können die Menschen nicht
fliegen wie die Vögel?
    Über die von der kecken Junisonne beschienene Bolschaja-Pirogowskaja-Uliza stürmte, sich geschickt zwischen den zahlreichen Passanten hindurchlavierend, ein Ausländer auf Rollschuhen. Er hatte die Größe eines Basketball-Spielers, trug einen blauen Blazer mit goldenen Knöpfen, eine rot-grüne schottische Krawatte

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