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Die Bibliothek des Zaren

Die Bibliothek des Zaren

Titel: Die Bibliothek des Zaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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hervorragend, nur an einer Stelle, dort, wo die linke Hälfte zerrissen worden war, klaffte ein kleines, von der unersättlichen Zeit gefressenes Loch.
    Maxim Eduardowitsch betrachtete das zusammengesetzte Schreiben aufmerksam und nickte zufrieden mit dem Kopf.
    »Ja, es passt. Ohne Ihr schlaues Programm bräuchte man mindestens eine Stunde. Wenn Sie fertig sind, schließen Sie bitte das Büro, geben die Mappe im Lesesaal ab und hinterlegen den Schlüssel an der Pforte. Ich gehe schnell – dann erwische ich wenigstens noch das Ende des Turniers. Ich wünsche Ihnen sensationelle Entdeckungen.«
    Mit diesem ironischen Wunsch entfernte sich der Archiv-Mozart und ließ Nicholas mit dem Testament seines Vorfahren allein.
    »Danke. Auf Wiedersehen«, brummte Fandorin reichlich verspätet, als die Tür schon zu war. Konzentriert vor sich hin schniefend, entzifferte er die erste Zeile:
    »Dieses vermächtnisz ist fuer meinen son Nikita so . . .«
    Weiter ging es nicht – der Klaue des Hauptmanns von Dorn war nicht so einfach beizukommen.
    Aber gibt es denn nicht genau dafür den wissenschaftlichen Fortschritt?
    Der Magister legte die beiden Hälften so dicht wie möglich aneinander, schaltete den Computer ein, schloss den Scanner an und betätigte die »Scan«-Taste.
    Nicholas wollte die Entzifferung sofort in Angriff nehmen, aber seine Augen tränten von dem verdammten Staub, und seine Nase triefte, so dass es wohl vernünftiger sein würde, diesen aufregenden Prozess bis zur Rückkehr in das Hotel aufzuschieben. Jetzt konnte mit dem Schreiben ja nichts mehr passieren – er konnte es ausdrucken und jederzeit in einen lesbaren Text verwandeln.
    Ab ins Hotel! Und zwar nicht auf Rollschuhen, sondern mit der U-Bahn – er hatte jetzt keine Lust zu einem Spaziergang.
    Nicholas gab die Mappe und den Schlüssel ab und ging, bevor j er das Archiv verließ, noch schnell in die Toilette, um sich die tränenden Augen auszuspülen, die Nase zu putzen, und überhaupt musste er mal.
    Er stand vor dem Klobecken, betrachtete die gekachelte Wand vor sich und lächelte verträumt. Der Wortlaut des Kinderverses »Jetzt hab ich dich, mein Vöglein, du bleibst in meinem Netz, ich lass dich nicht entfleuchen, hier gilt nur mein Gesetz« wollte ihm nicht aus dem Kopf gehen.
    Der Aktenkoffer stand neben ihm auf dem Fußboden.
    Die Tür quietschte, jemand betrat die Toilette. Fandorin drehte sich nicht um. Warum auch?
    Sachte, beinah lautlose Schritte. So geht man in Turnschuhen, auf Gummisohlen.
    Ein leichtes Rascheln – und der Aktenkoffer war auf einmal aus Nicholas’ Blickfeld verschwunden.
    Er drehte sich sofort um und sah etwas Unglaubliches.
    Ein Mann in Sportschuhen, gelb-grün kariertem Hemd (in der sowjetischen Literatur hatte dergleichen Cowboy-Hemd geheißen) und blauer Leinenhose mit Nieten ging seelenruhig mit dem »Samsonite« Richtung Ausgang.
    »Halt!«, schrie Fandorin, der nichts verstand. »Das ist meiner!
    Sie müssen sich vertan haben!«
    Der Unbekannte schien nichts zu hören. Er machte die Tür auf, und weg war er.
    Nicholas brauchte ein paar Sekunden, um seine Hose in Ordnung zu bringen, er konnte ja schließlich nicht mit offenem Hosenschlitz loslaufen. Als er in den Flur gestürzt kam, war der Räuber schon in der Nähe der Treppe.
    »Halt!«, brüllte Nicholas. »Was soll denn dieser Blödsinn!«
    Der Karierte schaute sich um.
    Er war jung. Hatte schräg gekämmtes helles Haar, das ihm an der Seite in die Stirn fiel. Ein ganz gewöhnliches Allerweltsgesicht. Altmodische Brille, wie man sie vor dreißig Jahren trug.
    Dreist lächelnd sagte der Dieb:
    »Na, Basketball-Spieler, wollen wir um die Wette laufen?« Und stürmte in Sprüngen die Treppe hoch.
    »Woher weiß er, dass ich mal Basketball gespielt habe?«, fragte sich Nicholas verdutzt, schaltete aber sofort: Ach so, er meint nur meine Größe.
    Er war verrückt, ein typischer Spinner, da gab es keinen Zweifel. Gut, dass er nicht nach unten gelaufen war, sonst hätte er ihm über das ganze Archiv-Gelände nachjagen müssen. Treppauf gab es nicht viele Möglichkeiten – über dem zweiten Stock war schon das Dach.
    Der Brillenträger beeilte sich nicht sonderlich. Er blieb zweimal stehen, drehte sich nach Nicholas um und machte sich auch noch über ihn lustig, indem er dreist mit dem Aktenkoffer winkte.
    Die Treppe mündete in einen Absatz. Der Spinner stieß eine niedrige Tür auf, es zeigte sich ein von grellem Sonnenlicht beschienenes Rechteck. Offenbar gab es

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