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Die Bibliothek des Zaren

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Titel: Die Bibliothek des Zaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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die zugehaltene Nase. »Sie stört das faule Fleisch nicht, sie verwenden es für eine Kohlsuppe mit dem Namen Schtschi und verzehren es mit Vergnügen.«
    Neben einer Holzkapelle rannte ein völlig nackter Mann auf und ab, er hatte nur einen Schurz um die Lenden. Er wackelte mit seinem langen Bart, verdrehte die Augen und spuckte die Passanten an. Auf seiner Brust hing ein schweres schmiedeeisernes Kreuz, sein gelber Körper war von oben bis unten mit Geschwüren übersät.
    Als er die Ausländer erblickte, brüllte der schreckliche Mann los, drehte sich im Kreis, las ein Stück Scheiße (vermutlich eigener Fabrikation) vom Boden auf und bewarf damit den ehrbaren Herrn Meyer, wobei er eine seltene Zielsicherheit an den Tag legte: Er traf den Kaufmann an der Schulter. Cornelius wollte ihm eins mit der Peitsche überziehen, um den unverschämten Kerl ordentlich zurechtzuweisen, aber der Anführer der Kaufleute packte ihn am Ärmel und sagte:
    »Ihr seid wohl verrückt geworden. Das ist ein Blashenny, so etwas Ähnliches wie ein Derwisch bei den Moslems. Die werden von den Russen als Heilige verehrt. Wenn Ihr ihn schlagt, fallen sie über uns alle her und reißen uns in Stücke.«
    Er säuberte sorgfältig sein Gewand und warf das verschmutzte Tuch auf den Boden. Sofort stürzten sich Bettler darauf.
    Einem anderen Beispiel für die merkwürdigen russischen Vorstellungen von Heiligen begegnete Cornelius in der nächsten Straße. Ein Pope verließ die Kirche in vollem Ornat, aber so betrunken, dass er sich kaum auf den Beinen halten konnte. Er beschimpfte einen Passanten, dieser habe sich nicht tief genug verneigt, traktierte ihn zuerst mit dem kupfernen Weihrauchfass, riss ihm dann die Mütze vom Kopf, packte ihn an den Haaren und zog seinen Schopf nach unten.
    »Trunksucht gilt hier nicht als Sünde«, meinte Meyer achselzuckend. »Aber schaut mal da, ein Bojar.«
    Mitten auf der Straße ritt ein hoch gestellter Herr, der nicht sommerlich gekleidet war. Er trug einen wunderbaren goldbestickten Pelz und eine wie ein Ofenrohr in die Höhe ragende Pelzmütze. Am Sattel hing eine kleine Trommel, auf die der elegante Reiter gleichmäßig mit dem Griff der Peitsche schlug. Der Pöbel stob zur Seite und zog hastig die Mütze. Dem Bojaren folgten noch ein paar Reiter, die einfacher gekleidet waren.
    »Warum trommelt er?«, fragte von Dorn.
    »Damit sie ausweichen und ihn durchlassen. Auch wir sollten ihm nicht im Wege stehen. He!«, rief Meyer seinen Leuten zu. »Geht zur Seite. Lasst den Wichtigtuer durch!«
    Cornelius zog nicht den Hut – das war denn doch zu viel der Ehre. Der Bojar fixierte ihn durch die Schlitze seiner geschwollenen Augen und spuckte ihn an. In Europa hätte von Dorn den Rüpel mit dem Handschuh geohrfeigt – und weiter hätte der Degen zu entscheiden gehabt, aber hier war nicht Europa, so dass er sich nicht muckste und nur die Backenwülste spielen ließ.
    Hinter der weißen Steinmauer, die das Zentrum der Stadt von den Vororten trennte, heftete sich der Karawane eine Knabenschar an die Fersen. Sie liefen neben ihnen her, wichen geschickt den Peitschenschlägen aus und riefen etwas im Chor.
    Cornelius hörte zu und begriff, dass sie immer dasselbe wiederholten.
    »Was rufen sie? Was heißt denn Nemez kysch na kukuj?«
    »Sie rufen: ›Ausländer, geh zum Kukuj‹«, antwortete Meyer lachend. »Kukuj ist der Bach, an dem die Ausländervorstadt gelegen ist. Alle Ausländer müssen sich da ansiedeln, auch Ihr werdet da wohnen. Die Rotznasen wollen damit provozieren. Das ist ein Wortspiel. Kukuj erinnert an das russische Wort chuj für das männliche Geschlechtsteil, und gemeint ist etwas wie: Ausländer verpisst euch!«
    Doch da war es auch schon Zeit, sich von den guten Handelsleuten zu verabschieden.
    »Wir müssen nach links, die Waren anmelden. Ihr, Herr Hauptmann, müsst dahin«, sagte der Anführer der Kaufleute und deutete in die andere Richtung. »Sehr Ihr über den Dächern den Turm mit dem doppelköpfigen Adler? Ihr reitet durch das Tor, und gleich rechts ist die Ausländerbehörde. Nur reitet nicht einfach geradeaus, sondern macht einen Bogen und nähert Euch von der anderen Seite. Das dauert zwar länger, ist aber sicherer.«
    »Warum denn das?«, fragte Cornelius verwundert.
    Die Straße, die zum Turm führte, war in gutem Zustand, breit und im Unterschied zu allen anderen fast menschenleer. Nur an dem hohen Tor eines großen Holzpalastes standen mehrere Landstreicher beisammen.
    »Das ist

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