Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Bibliothek des Zaren

Die Bibliothek des Zaren

Titel: Die Bibliothek des Zaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
Vom Netzwerk:
da einen Zugang zum Dach.
    Ohne die idiotische Situation des Vorfalls noch ganz durchschaut zu haben, rannte Fandorin die Stufen hoch.
    »Wenn man das erzählt, glaubt das doch kein Mensch«, murmelte er.
    Es gab auf dem Dach keine Möglichkeit, sich zu verstecken, und der Dieb versteckte sich auch gar nicht, sondern stand da und wartete an dem Rand, der nicht zur Bolschaja-Pirogowskaja-Uliza, sondern zum Innenhof lag.
    »Wir sind da. Sie haben gewonnen, ich habe verloren«, sagte Fandorin beschwichtigend und näherte sich vorsichtig dem Verrückten. »Geben Sie mir nun den Aktenkoffer, und wir laufen um die Wette zurück, ja?«
    Der Dieb hatte sich den Aktenkoffer zwischen die Beine geklemmt, stand mit dem Rücken zum Abgrund und lachte fröhlich, offenbar war er vollauf mit sich zufrieden. Hauptsache, er schmiss den Aktenkoffer nicht nach unten – dann ginge das Notebook zu Bruch. Und auch herunterfallen sollte dieser arme Irre bitte lieber nicht.
    Nicholas schaute ängstlich über den Rand. Das Gebäude war zwar nur zweistöckig, aber es war ein Altbau und hatte hohe Decken. Wenn man nach unten flog, waren das gute vierzig Feet. Und nur mit Knochenbrüchen kommst du nicht davon, wegen der Renovierung war der ganze Hof bis dicht an die Archivmauern mit Baumaterial, Metallgerümpel und Abfallcontainern mit scharfen eisernen Kanten voll gestellt. Wenn du da herunterfällst, ist das der sichere Tod.
    Der Spinner war mit seinem Aktivitätsschub offenbar am Ende. Er stand friedlich da und betrachtete Nicholas immer noch mit demselben wohlwollenden Lächeln.
    Fandorin musterte ihn von Kopf bis Fuß und zeigte dann langsam auf den Aktenkoffer:
    »Wenn Sie nichts dagegen einzuwenden haben, nehme ich ihn mir jetzt. Abgemacht? Wir sind so toll um die Wette gelaufen. Gehen wir nun zurück.«
    »Warum können die Menschen nicht fliegen wie die Vögel?«, fragte der Karierte auf einmal und erklärte: »Das steht bei dem Dramatiker Ostrowski.«
    Nicholas verstand nichts:
    »Verzeihung, was wollen Sie damit sagen?«
    »Schade um das Vögelchen«, sagte der Spinner und machte ein weinerliches Gesicht.
    »Woher weiß er von dem Vogel und dem Vers?«, wunderte sich Fandorin noch mehr. Aber da packte der Brillenträger ihn auf einmal mit der einen Hand am Gürtel und mit der anderen am Jackett und schleuderte den zwei Meter langen Magister der Geschichte ohne die geringste Anstrengung über seinen Kopf – den unten wartenden scharfen Betonzacken und rostigen Eisenkanten entgegen.
    Anlage:
    Der Limerick, den N. Fandorin am 14. Juni gegen Mittag im Zentralarchiv für alte Dokumente in einem Moment der Erregung dichtete:
    Ein Bräutigam schwärmt glücksgeblendet:
»Das Küssen hat nun nie ein Ende.«
Doch als er der Braut Laut aufs Hinterteil haut,
Bricht er sich alle beide Hände.

VIERTES KAPITEL
    Cornelius sieht ein goldenes Fünkchen am
Horizont. Die größte hölzerne Stadt der Welt.
Audienz beim Vizeminister. In der deutschen
Vorstadt. Die merkwürdigen Gebräuche der
Moskowiter. Die wichtigste russische Pflanze
    Die Hauptstadt des großen asiatischen Kaiserreichs zeigte sich Cornelius von Dorn zuerst als ein winziges goldenes Fünkchen am Horizont.
    »Schauen Sie, Herr Hauptmann«, sagte der Anführer der Kaufleute William Meyer zu ihm, »das ist die Kuppel des Glockenturms vom Kreml. Er heißt Iwan der Große. Unter diesem Turm residiert der Zar der Moskowiter. Noch drei, vier Stunden, und wir gelangen zum Stadttor.«
    Cornelius hatte sich in Pskow einer Karawane dänischer und englischer Kaufleute angeschlossen. Wegen der schweren Fuhrwerke mit der Ware kamen sie nur langsam vorwärts, riskierten andererseits aber auch weniger, und außerdem erhielt er von seinen Weggefährten, von denen die meisten nicht zum ersten Mal durch Russland reisten, etliche wertvolle Informationen über das geheimnisvolle, fast märchenhafte Land, in dem der Hauptmann ja entsprechend dem Vertrag, den er unterschrieben hatte, vier Jahre leben sollte.
    Die Kaufleute waren gesetzte Menschen, die allerhand gesehen hatten und alles Mögliche gewohnt waren. Von den gierigen russischen Gouverneuren und Magistraten kauften sie sich mit einem kleinen Betrag frei, bezahlten nicht mehr als nötig, und gefährliche Wälder und Gebiete, wo Räuber die Gegend unsicher machten, was im Russischen poschalivajut hieß, mieden sie weiträumig. Für den Notfall, wenn sich eine Begegnung mit den Halunken nicht vermeiden ließe, hatten sie folgende Absprache getroffen:

Weitere Kostenlose Bücher