Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Bibliothek des Zaren

Die Bibliothek des Zaren

Titel: Die Bibliothek des Zaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
Vom Netzwerk:
offen, aber der Zopf gilt bei den Moskauer Jungfrauen als Symbol der Schönheit. Je länger und dicker er ist, desto höher steht die Braut im Kurs, da kann ihr Gesicht ruhig voller Pickel sein. Ein Mädchen wird seinen Zopf um nichts in der Welt verkaufen. So blieben also nur die freizügigen Frauen, die barhäuptig durch Moskau zogen. Davon gab es mehr als genug, man konnte sich ihrer kaum erwehren, aber Rothaarige waren darunter seltener als in Holland. Cornelius hatte den benötigten Farbton bisher nur von einer völlig dem Suff verfallenen Frau bekommen, der er eine Flasche Wodka und eine halbe Kopeke zahlte. Als er die Haare dann genauer betrachtete, stellte sich heraus, dass sie mit Henna gefärbt waren.
    Aber er warf das Briefchen mit dem Muster nicht weg, sondern hob es auf. Im Regiment hieß es, sie würden bald in den Norden geschickt werden, um gegen die Altgläubigen zu kämpfen, die sich in ihren Waldeinsiedeleien verbarrikadiert hatten, das Kreuz-Zeichen falsch schlugen und dem Zaren keine Abgaben zahlen wollten. Da oben im Gebiet von Wologda sollte es angeblich viele Rothaarige geben. Von Dorn malte sich aus, wie er Beute machen würde. Er würde sie nicht kahl scheren, er war doch kein Unmensch, zwei Handbreit würde er den Weibern und Mädchen lassen. Macht nichts, in einem Jahr würden ihnen die Haare nachgewachsen sein.
    Und wenn sie ihn nicht in die nördlichen Wälder schickten – dann eben nicht. Dann würde die geheime DISPOSITION in Kraft treten.
    »Nowikow, du unsäglicher Rohling. Ich schlag dir deine Schweineschnauze ein!«
    ***
    Von Dorn stürzte sich auf Minka Nowikow aus dem vierten Peloton. Minka war ein Problemfall – er war gehässig und grausam, die anderen Soldaten hatten Angst vor ihm. Gestern soll er eine Katze gefangen und ihr bei lebendigem Leib das Fell abgezogen haben – es hieß, das Geheul sei in der ganzen Kaserne zu hören gewesen. Cornelius hatte noch keine Untersuchung dieses grässlichen Falls eingeleitet. Wenn sich herausstellte, dass es stimmte, würde er Minka mit einer Notiz zum Regimentsschergen schicken; der würde diesem Ungeheuer fünfzig Hiebe überziehen, damit er aufhörte, wehrlose Geschöpfe zu quälen und den Soldatenstand in Verruf zu bringen. Auch jetzt, wo sie einen Handgriff übten, nämlich wie man einen Schlag mit dem Messer im Kampf abwehrt, hatte Nowikow dem schmächtigen Juschka Chrjaschtschewaty mit Absicht den Arm ausgerenkt. Der krümmte sich vor Schmerz, hatte aber Angst zu schreien.
    Er musste sich Minka vornehmen. Cornelius ließ ihn antreten und schlug ihm ins Gesicht – nicht zu stark, um ihm nicht das Nasenbein zu brechen und die Zähne auszuschlagen, aber so, dass Blut floss. Minka heulte auf und stand stramm. Geschieht dir recht, du Ungeheuer, wenn der Regimentsscherge dir erst die Rute gibt, wirst du noch ganz andere Töne anschlagen.
    Von Dorn griff nicht häufig zu Rutenhieben und Ohrfeigen, sondern nur dann, wenn es sich um einen Soldaten handelte, bei dem Worte und Ermahnungen überhaupt nicht fruchteten. Wenn man Vorgesetzter ist, muss man zu jedem einen Zugang finden können, was ist man sonst für ein Kommandeur? Wenn der Soldat schlecht ist, ist der Offizier schuld; er hat ihm nichts beigebracht oder es nicht geschafft, ihn richtig anzufassen. Aber es gab natürlich auch solche wie Nowikow, die nur auf Prügel und Schimpfen reagierten.
    Prügel – na ja, besser wäre, man käme ganz ohne sie aus, aber Geschimpfe, das ist beim Kriegshandwerk ein Ding der Notwendigkeit, ohne das man keinen Befehl geben und keinen Angriff starten kann. Beim Erlernen der russischen Sprache hatte sich von Dorn in erster Linie diese verbale Disziplin vorgenommen. Was das Fluchen betrifft, so erwiesen sich die Moskowiter im Gegensatz zu anderen Fertigkeiten darin als höchst erfinderisch und gewitzt. Der Grund dafür war, wie Cornelius verstand, wieder die Härte der Gesetze. Für obszöne Flüche wurde man von der Obrigkeit streng bestraft. Über Märkte und Plätze spazierten besondere Geheimpolizisten, die die Ohren spitzten. Sobald sie irgendwo unerlaubte Flüche hörten, sobald jemand die Stimme erhob und unanständige Ausdrücke gebrauchte, schnappten die Büttel sich ihn sofort und zerrten ihn vor Gericht. Allerdings half diese Maßnahme wenig – sie führte nur dazu, dass noch kunstvoller und übler geflucht wurde. Und wenn die Sittenwächter den Schimpfenden an den Haaren aufs Amt zerrten, fluchten sie selber derart, dass Leute, die

Weitere Kostenlose Bücher