Die Bibliothek des Zaren
fixe, geladen zu sein, galt als eine große Ehre, derer nur Auserlesene würdig waren. Früher kam bisweilen auch der Zar selbst vorbei. Er hörte zu, wie Klavichord gespielt wurde, betrachtete Bilder in Büchern aus fernen Ländern, starrte die Frauen und Mädchen an – wie in Europa üblich, waren in Matfejews Haus die Damen bei Tisch zugelassen, und sie führten sich nicht nach russischer Sitte auf (niedergeschlagene Augen und um Gottes willen nicht den Mund aufmachen oder lächeln), sondern frei. Artamon Sergejewitschs Frau war Schottin, eine geborene Hamilton, und hielt sich nicht an die strenge russische Hausordnung und die alten moskowitischen Bräuche. In Matfejews Haus gab es viele taufrische und scharfsichtige Schwägerinnen und Patentöchter, und eine davon, Natalja Naryschkina, wollte der verwitwete Zar zur Zarin machen.
Zum Schein wurde eine Brautschau nach altem Brauch abgehalten. Man brachte Mädchen aus guten Geschlechtern in den Palast und legte immer drei von ihnen ins Bett – sie sollten friedlich daliegen, als ob sie schliefen, und es ja nicht wagen, ein Auge auf den Herrscher zu werfen. Alexej Michailowitsch ging zum Schein durch die Schlafgemächer, besah sich diese angeblich schlafenden Schönheiten und wählte nicht irgendeine unter ihnen aus, sondern Matfejews Zögling; sie wusste schon, dass sie die Auserwählte war, lag ohne Zittern da und linste durch die dichten Augenwimpern.
Nach der Hochzeit kam der Zar nicht mehr an den Donnerstagen, aber auch ohne ihn verlor der Jour fixe nicht seinen Reiz, sondern es ging nur lebhafter, freier und fröhlicher zu. Die Speisen waren köstlich, ohne die Moskauer Völlerei, und getrunken wurde nicht, bis man betrunken war, sondern in Maßen, und zwar französische, deutsche und italienische Weine. Nach jedem Gangwechsel bekam man neues Geschirr, das Essen wurde nicht immer in denselben Teller gegeben. Wenn man im Zarenpalast eine Schüssel einmal pro Jahr wusch, war das schon viel, während du dich hier wie in einem Spiegel darin betrachten konntest. Neben jedem Besteck (es wurde nicht nur ein Löffel gedeckt, sondern auch eine Gabel und ein Messer für das Fleisch) liegt eine Leinenserviette – damit man sich die Hände elegant abwischen kann und nicht das Kleid oder die Haare zu Hilfe nehmen muss. Cornelius hatte auf einem Zarenempfang einmal gesehen, wie der Kammerherr Mikischka Sokownin sich gebückt und heimlich die Brokattischdecke als Schnäuztuch benutzt hatte, wofür er von dem wachsamen Zeremonienmeister Michail Schtscherbatow unverzüglich mit Schimpf und Schande verjagt worden war. Eine solch barbarische Szene hätte man sich bei Artamon Sergejewitsch unmöglich vorstellen können.
Man unterhielt sich hier gesittet, ohne zu schreien. Es war unüblich, mit den Ahnen zu prahlen, unanständige Gespräche unterblieben, und man rechnete sich nicht gegenseitig alte Beleidigungen vor. Die Gespräche kreisten um Philosophie und Politik, darum, was es Neues in Europa und der Türkei gab, und mit den Frauen sprach man über die Bräuche an den Höfen von Versailles und St. James.
Artamon Sergejewitsch war schon ein richtiger Greis, um die fünfzig, seine Gemahlin Jewdokija Grigorjewna aber stand noch im gebärfähigen Alter und schenkte ihrem Mann fast jedes Jahr ein Kind. Zwar lebten die Kinder aufgrund des rauen Moskauer Klimas nicht lange, sondern starben im Säuglingsalter – auch jetzt trug die Hausfrau in Cornelius‘ Gegenwart Schwarz, weil sie um ihren einjährigen Sohn trauerte, der an Mariä Schutz und Fürbitte in den ewigen Frieden eingekehrt war. Aber Gott hatte sich erbarmt und den Matfejews zwei Kinder am Leben erhalten: einen Sohn und eine Tochter.
Der kleine Andrej Artamonowitsch war mit seinen zehn Jahren schon Tischaufseher beim Zaren, er konnte nicht nur lesen, sondern sprach auch Französisch, Deutsch und Englisch. Bei den Donnerstagssitzungen trug er lateinische Verse vor, und die Gäste klatschten gesittet in die Hände, wie es sich nach westlicher Art gehörte. Man konnte sehen, dass aus dem Knaben etwas werden würde.
Aber die Tochter des Kanzlers, Alexandra Artamonowna, im häuslichen Kreis Saschenka genannt, beschäftigte Cornelius weit mehr. Zierlich, mit hellem Teint, einem runden Gesicht, einer feinen Stupsnase und länglichen grauen Augen kam sie von Dorn wie ein Zugvogel vor, den nur die Laune eines missgünstigen Windes in das barbarische Moskowien hatte verschlagen können: Er musste den zarten Vogel
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