Die Bibliothek des Zaren
flüsterte Seine Eminenz:
»Hauptmann, ruf Bruder Joseph zu mir.«
Von Dorn ging in den Flur, um den Mönch mit dem schwarzen Bart zu holen, und als sie zusammen den Saal betraten, kam Herr Walser herausgestürzt, der immer noch genauso blass war.
»Ihr wollt schon gehen, mein Herr?«, sagte Cornelius verwundert. »Das Fest beginnt doch gerade erst.«
»Eine wichtige Angelegenheit . . . Habe ich ganz vergessen. Und fühle mich nicht gut«, murmelte der Apotheker mit sich überschlagender Stimme, während er entsetzt auf den dunklen Bruder Joseph blickte.
Und er stürzte mehr, als dass er lief, zum Ausgang, dieser Sonderling.
Cornelius hielt sich nicht lange im Speisezimmer auf: eine Minute oder zwei, wenn es hochkam. Der Metropolit gab dem Kirchendiener einen Auftrag (Joseph setzte sich sofort in Bewegung) und begann mit Pastor Gregori eine gelehrte Debatte über die Ansichten eines gewissen Pascal, während Fürst Wassili Wassiljewitsch sich zu Saschenka setzte und ihr etwas ins Ohr flüsterte. Das Fräulein schlug die Augen nieder. Der Hausherr, Artamon Sergejewitsch, blickte mit freundlichem Lächeln auf das junge Paar, was mit anzusehen die Kräfte des Hauptmanns entschieden überstieg.
»Zum Teufel mit dem Lachs – ich kriege ihn sowieso nicht runter«, dachte Cornelius und ging in die Nacht, um die Wachposten vor dem Tor zu kontrollieren. Macht nichts, die Qual würde bald vorbei sein. Galizki würde Brautwerber schicken, sie würden Hochzeit feiern, dann würde Alexandra Artamonowna aufhören, den armen Soldaten mit ihrer freundlichen Ansprache und dem strahlenden Blick in Verlegenheit zu bringen. Die Mühle des Lebens würde alles klein mahlen: Alles Leid heilt die Zeit.
Er ging durch die Artamon-Gasse. An dem Gitter, wo die Hälfte der Miloslawskis begann, standen der Sergeant Olafson und zwei weitere Männer in langen Pelzmänteln. Sie schliefen nicht und rauchten keine Pfeife. Mit dem anderen Posten, am Ausgang zur Malorossejka-Uliza, war auch alles in Ordnung.
Cornelius ging hinten um den Palast herum, an der Mauer entlang, nicht weil er musste, sondern einfach so, um sich die Beine zu vertreten. Er brachte es nicht über sich, in den Saal zurückzukehren und mit anzusehen, wie Galizki mit seinem Schnurrbart das Öhrchen von Alexandra Artamonowna kitzelte.
Es war eine sternklare Nacht. Von Dorn ging, schaute in den ewigen, mondbeschienenen Himmel und seufzte. Die Hand hatte er für alle Fälle am Pistolengriff.
Plötzlich hörte man in der Finsternis bei der Umzäunung der St.-Nikolai-Kirche Lärm und bald auch schon den Schrei »Hilfe! Mörder!«
Cornelius schüttelte den Kopf und wollte zurückgehen. Da kannst du dir die Seele aus dem Leib schreien, die Straßenwache eilt nicht zu Hilfe, die sind ja nicht lebensmüde. Später, wenn das Gebrüll verstummt ist, kommen sie. Wenn der Überfallene nicht totgeschlagen wurde, bringt man ihn zur Gerichtsstube. Wenn er tot ist, schafft man ihn ins Leichenschauhaus. Aber niemand wird aus dem Haus stürzen, um jemand, den man umbringen will, zu retten; das ist in Moskau nicht üblich. Nicht nur, dass du womöglich selbst dran glauben musst, später beim Prozess im Kriminalgericht wirst du dann auch noch in die Mangel genommen: wer du bist, warum du dich eingemischt hast, ob du nicht selbst ein Dieb bist.
Sollen sich diese Moskowiter doch in Seelenruhe gegenseitig abschlachten.
Aber da erscholl es von dem Unglücksort auf einmal auf Deutsch:
»Hilfe! Hilfe!«
Das war etwas anderes. Einen Europäer, und erst recht einen Landsmann, darf man im Unglück nicht im Stich lassen.
Von Dorn blies dreimal kurz in seine Pfeife, um seine Leute herbeizurufen, wartete aber nicht, sondern stürmte vorwärts.
Er lief um die Umzäunung herum, sah Laternen im Schnee, die eine war erloschen, die andere brannte noch. Daneben lagen zwei reglose Körper mit ausgestreckten Armen. Die Schreie kamen von dort, wo es stockfinster war. Der Hauptmann kniff die Augen zusammen und machte zwei schwarze Gestalten aus, die jemanden über den Boden schleiften, der sich wehrte und jämmerlich schrie.
Und wieder hörte er in seiner Muttersprache:
»Hilfe! Hilfe!«
Auch die Stimme hatte er doch schon einmal gehört! Aus der Nähe erkannte Cornelius sie jetzt: Das war doch Herr Walser. Nun erst recht, es wäre eine Sünde, ja ein Verbrechen, einem Gast von Matfejew nicht zu Hilfe zu eilen.
»Halt!«, brüllte von Dorn wütend und riss seine Pistole heraus, eine schwedische, mit
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