Die Bischöfin von Rom
sechs Wochen«, erwiderte der Fuhrmann. »Dies wiederum bedeutet, daß du Rom sehen wirst, ehe der Winter hereinbricht.«
In dieser Nacht lag die junge Frau lange wach und malte sich aus, was sie in der Tiberstadt erwarten würde. Sie dachte an die Visionen, die sie in Avalon erlebt hatte, und überlegte, wie sie die Aufgabe, die ihr übertragen worden war, am besten erfüllen könnte. Erst spät schlief sie ein; als sie bei Sonnenaufgang mit schweren Lidern erwachte, hatte sie das Gefühl, wirr und angstvoll geträumt zu haben, vermochte sich aber an nichts zu erinnern. Sie kletterte aus dem Wagen und wusch sich in einem nahe vorbeifließenden Bach; das prickelnd kalte Wasser verscheuchte ihre seltsame Beklemmung.
Wenig später verabschiedeten sich die Legionäre, um den Heimweg nach Divio anzutreten; kaum waren sie verschwunden, machte sich die Handelskarawane an den Aufstieg ins Hügelland. Nachdem die ersten steilen Steigungen überwunden waren, kamen sie überraschend gut durch die Hochtäler voran. Freilich war die Gegend während der folgenden beiden Wochen, in deren Verlauf die Gebirgskette langsam näherrückte, erneut einsam; lediglich einmal, in der neunten Nacht, konnten sie im Schutz einer kleinen bäuerlichen Ansiedlung lagern. Marcus tröstete Branwyn jedoch damit, daß sie nun bald den See von Geneva und die gleichnamige Stadt erreichen würden, und Anfang September war es soweit.
Wieder hatte der Kaufmannszug einen Paß hinter sich gebracht; als der Planwagen um die letzte Wegkehre bog, erblickte die junge Frau ein Landschaftsbild von großer Schönheit. Hohe Bergketten umrahmten das Gewässer, das in weiches Spätsommerlicht gebadet war und sich halbmondförmig bis zum Horizont erstreckte. An manchen Stellen glaubte Branwyn Fischerdörfer auszumachen; am südlichen Ende des Sees entsprang ein Fluß, und dort standen im Schutz eines ovalen Palisadenwalles Hunderte von Häusern.
Lange schaute die junge Frau auf Geneva hinunter, endlich wandte sie sich an den Fuhrmann: »Ich dachte, wir würden zu einer Römerstadt gelangen, aber diese Siedlung wirkt eher keltisch auf mich.«
»Du hast recht«, bestätigte Marcus. »Geneva ist eine Gründung der Helvetier und wird bis heute fast ausschließlich von Angehörigen dieses Volkes, das mit den Galliern verwandt ist, bewohnt. Auch weiter nördlich und östlich im Gebirge leben noch helvetische Stämme, und vor vier Jahrhunderten setzten sie den Legionen Cäsars, als diese hierher vordrangen, schwer zu. Doch diese Zeiten sind längst vorbei; seit vielen Menschenaltern beschränken sich die Helvetier darauf, friedlichen Handel zu treiben, und so wurde Geneva zu einem wichtigen Umschlagplatz für den Warenaustausch zwischen Gallien und Italien.«
Schon am selben Nachmittag konnte Branwyn sich davon überzeugen, daß der Fuhrmann nicht übertrieben hatte. Auf dem zentralen Platz der Stadt sowie in den Gassen mit ihren zahlreichen Verkaufsständen herrschte geschäftiges Treiben; die verschiedenartigsten handwerklichen und landwirtschaftlichen Erzeugnisse wurden feilgeboten. Unter letzteren fielen der jungen Frau besonders die wagenradgroßen, in gewachstes Leinen eingenähten Käselaibe auf, die außerordentlich lange haltbar und zudem sehr schmackhaft waren, wie Marcus erklärte.
Im Lauf der Woche, die Paulinus Lupus für den Aufenthalt in Geneva eingeplant hatte, fand Branwyn mehrmals Gelegenheit, diese Spezialität zu kosten; ansonsten erkundete sie die Stadt und ihr Umland auf kleinen Wanderungen. An einem dieser Tage, als sie ein Dorf am Seeufer besuchte, lernte sie einen freundlichen älteren Fischer kennen, der sie einlud, ihn auf einer Fahrt in seinem Einbaum zu begleiten. Langsam glitt das archaische Boot hinaus zu den Fanggründen, wo der Alte ein Schleppnetz auswarf; während der Einbaum anschließend mit der sachten Strömung trieb, empfand die junge Frau tiefen, zeitlosen Frieden.
Am übernächsten Morgen hingegen, an dem die Karawane Geneva wieder verließ, litt Branwyn unter innerer Unruhe. Weil sie keine rationale Erklärung dafür fand, redete sie sich ein, daß ihre Beklemmung mit den grauen Wolken zusammenhängen müsse, welche die Bergflanken östlich des Sees verhüllten und aus denen immer wieder kurze Regenschauer niedergingen. Auch ihre Reisegefährten und selbst die Mulis und Esel wirkten bedrückt; während die Menschen sich so gut wie möglich gegen die Unbilden der Witterung zu schützen versuchten, trotteten die Lasttiere, von
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