Die Bischöfin von Rom
Nachmittag auf der Via Sacra gehabt hatte. Die Presbyterin stimmte mit ihr in der Ablehnung derartiger Heiligen- und Reliquienkulte überein, zuletzt äußerte sie: »Gerade weil es diese Verirrungen gibt, müssen wir um so mehr für Nächstenliebe und Humanität eintreten, denn der wahre Weg zum Göttlichen führt über die Menschenliebe.«
Damit aber sprach sie der Jüngeren, wie bei früheren Gelegenheiten schon, aus der Seele.
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Menschenliebe – sie war die Richtlinie, welche das Dasein im Haus Calpurnias und in der von ihr geleiteten Kirchengemeinde Sancta Maria bestimmte. Humanitas, die im täglichen Leben unverkrampft umgesetzt wurde und ihren Niederschlag nicht nur in der Krankenpflege, sondern auch in verschiedenen anderen Bereichen fand.
In einem Gebäude, welches die Witwe eines Fischhändlers zur Verfügung gestellt hatte und das nur ein paar Gassen vom Hospital entfernt stand, gab es eine Schule, wo Kinder aus ärmeren Familien kostenlos unterrichtet wurden. Ihre Eröffnung, so hatte Calpurnia bei ihrem ersten Besuch mit Branwyn dort erzählt, war eine kleine Revolution in Rom gewesen. Denn bis dahin hatte die Wissensvermittlung einzig in den Händen teurer Privatlehrer gelegen, weshalb Bildung traditionell als Privileg der Wohlhabenden angesehen worden war. Zudem hatten diese Dozenten ausschließlich Knaben zum Unterricht angenommen, nicht jedoch Mädchen. Aber jetzt bekamen, ungeachtet ihres Geschlechts oder ihrer Herkunft, alle talentierten Jugendlichen eine Chance – und was speziell die Arbeiterfamilien anging, durften viele von ihnen nun hoffnungsvoller in die Zukunft blicken.
Auf der Insel von Avalon hatte Branwyn sowohl in der Heilstätte als auch in der Schule gearbeitet; ebenso hielt sie es seit ihrer Ankunft in der römischen Kirchengemeinde. Durch ihre ungezwungene, humorvolle Art gewann sie die Herzen der Schulkinder, dank ihrer medizinischen Kenntnisse erwarb sie sich das Vertrauen der Kranken – doch darüber hinaus war sie noch in einem weiteren Bereich tätig, nämlich in der Waisenfürsorge.
Anfangs war ihr dieses Aufgabengebiet fremd gewesen, weil sich das Problem in der ländlichen keltischen Gesellschaft, wo die wenigen Waisenkinder sofort bei Verwandten aufgenommen wurden, nicht gestellt hatte. Aber dann hatte Calpurnia ihr eindringlich die traurigen Verhältnisse im ungleich kälteren sozialen Umfeld der Millionenstadt Rom vor Augen geführt: die Verwahrlosung zahlreicher Jungen und Mädchen, die ihre Eltern verloren hatten und daraufhin, da jegliche staatliche Fürsorge fehlte, zu Straßenkindern geworden waren.
Branwyn hatte diese bedauernswerten Wesen in der Gosse oder bei ihren menschenunwürdigen Behausungen auf irgendwelchen Ruinengrundstücken gesehen, und die Presbyterin hatte ihr erklärt, wie sie ihr Dasein fristeten. Viele von ihnen, vor allem die kleineren, bettelten oder durchstöberten die Abfallhalden nach Essensresten; andere, die gewöhnlich ein paar Jahre älter waren, hatten sich zu Banden zusammengeschlossen und schlugen sich mit Diebstählen und teils noch schwereren kriminellen Delikten durch. Außerdem – und dies hatte Branwyn am meisten schockiert – gab es Hunderte von Kindern und Halbwüchsigen beiderlei Geschlechts, die sich für ein paar Kupfermünzen prostituierten, um zu überleben, und sich auf diese Weise nicht nur zutiefst erniedrigten, sondern zudem der Gefahr ausgesetzt waren, sich eine Geschlechtskrankheit zuzuziehen oder zum Opfer eines Sexualmordes zu werden.
Um wenigstens einen Teil dieses unaussprechlichen Leids zu lindern, hatte Calpurnia das Waisenhaus eingerichtet; ähnlich wie die Schule gehörte das Gebäude einem wohlhabenden Mitglied der Kirchengemeinde. Die Mädchen und Jungen, die man hier aufgenommen hatte, bewohnten jeweils zu zweit oder zu dritt einen der Räume. Zu bestimmten Stunden des Tages wurden die Kinder von denselben Lehrern unterrichtet, die auch an der öffentlichen Schule tätig waren. Ansonsten bemühte sich eine ganze Reihe von Gemeindemitgliedern – besonders solche, die Handwerksbetriebe in Trans Tiberim besaßen – darum, die Halbwüchsigen beruflich auszubilden, damit sie später auf eigenen Füßen stehen konnten. Aber auch dann, wenn sie nicht die Schulbank drückten, beziehungsweise in einer Schreinerei, Stellmacherei, Schmiede, Schneiderei oder Gärtnerei arbeiteten, blieben die Insassen des Waisenhauses sich selten selbst überlassen. Freiwillige Helfer – zumeist kinderlose
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