Die Bismarcks
an war die Balance des internationalen Systems auf empfindliche Weise gestört, konnte ein in Deutschland erscheinender Zeitungsartikel eine gefährliche Krise auslösen. Dies hing vor allem mit der von Frankreich schweren Herzens gebilligten Abtretung von Elsass-Lothringen zusammen, der Kriegsbeute von 1870/71. Die Rückkehr des Gebiets nach Deutschland war im deutschen Kaiserreich populär, muss in der Retrospektive jedoch als strategischer Fehler des Reichskanzlers gewertet werden, als Ausgangspunkt für die bis 1945 anhaltende »Erbfeindschaft« der beiden Völker.
Für den Zeitgenossen stellte sich die Situation freilich anders dar. Frankreich hatte den bereits 1866 eingetretenen Macht- und Prestigeverlust nicht verwunden, wie der Slogan »Revanche pour Sadowa« zeigte. Königgrätz, so hieß der Schlachtort in deutscher Sprache, war für die Franzosen ein Zungenbrecher. Bismarck musste somit davon ausgehen, dass der Gegensatz zu Frankreich dauerhaft bestehen würde, unabhängig von der Inbesitznahme der beiden Provinzen.
Allerdings legte Preußen in den folgenden Jahrzehnten in dem direkt verwalteten Gebiet nicht viel Einfühlungsvermögen an den Tag. Große Teile der Oberschicht und des Bildungsbürgertums verließen Straßburg und Colmar und gingen schon 1871 nach Frankreich in die Emigration. Aus dem Elsass kommende Deutschlehrer bildeten bis zum Ersten Weltkrieg den Stamm der an französischen Gymnasien unterrichtenden Germanisten. Insgesamt verließen 480 000 Elsässer und Lothringer ihre Heimat. Die Zabern-Affäre im Herbst 1913, am Vorabend des Ersten Weltkriegs, verursacht durch die unbedachte Äußerung eines preußischen Leutnants, zeigte, dass die »Reichslande« alles andere als befriedet waren. Aus der Beleidigung von elsässischen Rekruten entwickelte sich eine harmlose Protestbewegung, auf die die Armee mit der Verhängung des Ausnahmezustands vollkommen überreagierte. Sie löste damit ein politisches Erdbeben im fernen Berlin aus. Die Deutschen verstanden nicht, dass das Erlebnis der Französischen Revolution die Elsässer und Lothringer »grosso modo« zu Franzosen gemacht hatte.
Bismarck verfolgte daher während seiner gesamten Kanzlerschaft die Strategie, Frankreich zu isolieren und alles dafür zu tun, dass es nicht zu gegen das Reich gerichteten Bündnissen kam. Dazu gehörte auch, dass Frankreich eine Republik blieb und nicht wieder in die Gemeinschaft der alten monarchistischen Mächte zurückkehrte. Das Mittel für diese Politik waren Bündnisse zwischen einzelnen Persönlichkeiten, Monarchen – eine Art von Ölfilm auf unruhiger See. Lange Zeit hielt diese Hilfskonstruktion. In der Regierungszeit von Bismarck zerriss sie nicht.
Die Bündnisse banden zunächst Russland und Österreich ein, die Bismarck machtpolitisch versuchte, in Richtung Balkan zu lenken. Ein erster Erfolg in dieser Richtung war das 1873 abgeschlossene Dreikaiserbündnis. Es verminderte vor allem die Gefahr eines Konflikts zwischen St. Petersburg und Wien. Gefährlich für Bismarck wurde nun der Konflikt mit Moltke, der bei jeder sich bietenden Gelegenheit dafür plädierte, mit einem Präventivkrieg gegen Frankreich vorzugehen. Aber schon in der sogenannten Krieg-in-Sicht-Krise des Jahres 1875 zeigte sich, dass ein derartiger Ansatz die Gefahr eines großen europäischen Krieges heraufbeschwor.
Auslöser der Krise war eine Verstärkung der französischen Streitkräfte in Friedenszeiten, die zu heftigen Pressereaktionen in Deutschland führte. Als ein von Bismarck nicht lancierter Beitrag in der regierungsnahen Zeitung Die Post mit der Schlagzeile »Ist der Krieg in Sicht?« erschien, war die europäische Reaktion einhellig. Weder England noch Russland, dessen Außenminister zur Erbitterung von Bismarck besonders heftig reagierte, waren bereit, einen deutschen Machtzuwachs hinzunehmen. Die Option des Präventivkrieges war damit für Bismarck ausgefallen. Zwar hielt er verbal von Zeit zu Zeit noch an ihr fest, setzte im Gegensatz zu Moltke und seinen Jüngern aber nicht länger darauf. 61
Zu den Aufenthalten von Bismarck auf dem Lande traten nun vermehrt die Kuren hinzu, die er bevorzugt in Bad Kissingen verbrachte. Hier kämpfte er am 15. Juni 1877 bei einem Diktat, das sein Sohn Herbert niederschrieb, gegen seinen ständigen Albtraum an: »le cauchemar des coalitions«. Im sogenannten Kissinger Diktat formulierte er das Grundprinzip seiner Diplomatie, »einer Gesamtsituation, in welcher alle Mächte
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