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Die Blechtrommel

Die Blechtrommel

Titel: Die Blechtrommel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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lang Mensch sein möchte.
    Keine Aufmerksamkeit schenkte ich der Umgebung. Weder die Schrebergärten noch Gerresheim und die dahinterliegende, im Dunst flächige Stadt lockten mein Auge. Ich setzte mich auf eine leere, verrostete Kabelrolle, die ich nun doch Kabeltrommel nennen muß, denn kaum saß Oskar auf dem Rost, da begann er schon mit den Knöcheln auf der Kabeltrommel zu trommeln. Warm war es. Mein Anzug drückte, war nicht sommerlich leicht genug. Lux war weg, blieb weg. Die Kabeltrommel ersetzte gewiß nicht meine Blechtrommel, aber immerhin: langsam glitt ich zurück, griff mir, als es nicht weitergehen wollte, als sich immer wieder die Bilder der letzten Jahre voller Krankenhausmilieu wiederholten, zwei dürre Knüppel, sagte mir: Nun warte mal, Oskar. Nun wolln wir doch mal sehen, was du bist, wo du herkommst. Und da leuchteten sie auch schon, die beiden Sechzig-Watt-Glühbirnen meiner Geburtsstunde. Der Nachtfalter schnatterte dazwischen, fern rückte ein Gewitter an schweren Möbeln, Matzerath hörte ich sprechen, gleich darauf Mama. Er verhieß mir das Geschäft, Mama versprach mir Spielzeug, mit drei Jahren sollte ich die Blechtrommel bekommen, und so versuchte Oskar, die drei Jährchen so schnell wie möglich hinter sich zu bringen: ich aß, trank, gab von mir, nahm zu, ließ mich wiegen, wickeln, baden, bürsten, pudern, impfen, bewundern, beim Namen nennen, lächelte auf Wunsch, jauchzte nach Verlangen, schlief ein, wenn es an der Zeit war, erwachte pünktlich und machte im Schlaf jenes Gesicht, das die Erwachsenen Engelsgesichtchen nannten. Mehrmals hatte ich den Durchfall, war oft erkältet, holte mir den Keuchhusten, hielt ihn mir einige Zeit lang und gab ihn erst auf, als ich seinen schwierigen Rhythmus kapiert hatte, für immer im Handgelenk hatte; denn wie wir wissen, gehörte das Stückchen »Keuchhusten« zu meinem Repertoire, und wenn Oskar vor zweitausend Menschen Keuchhusten trommelte, husteten zweitausend alte Männlein und Weiblein.
    Lux winselte vor mir, rieb sich an meinen Knien. Dieser Hund aus der Hundeleihanstalt, den auszuleihen mir meine Einsamkeit befohlen hatte! Da stand er auf vier Beinen, wedelte, war ein Hund, hatte diesen Blick und hielt etwas in der geifernden Schnauze: einen Stock, Stein, was sonst immer einem Hund wertvoll sein mag.
    Langsam entglitt mir meine so wichtige Frühzeit. Der Schmerz am Gaumen, der mir die ersten Milchzähne versprochen hatte, ließ nach, müde lehnte ich mich zurück: ein erwachsener, sorgfältig, etwas zu warm gekleideter Buckliger, mit Armbanduhr, Kennkarte, einem Bündel Geldscheinen in der Brieftasche. Schon hatte ich eine Zigarette zwischen den Lippen, Streichholz davor und überließ es dem Tabak, jenen eindeutigen Kindheitsgeschmack in meiner Mundhöhle abzulösen.
    Und Lux? Lux rieb sich an mir. Ich stieß ihn weg, blies ihn mit Zigarettenrauch an. Das mochte er nicht, blieb aber dennoch und rieb sich an mir. Sein Blick leckte mich ab. Ich suchte die nahen Leitungsdrähte zwischen Telegrafenmasten nach Schwalben ab, wollte Schwalben als Mittel gegen aufdringliche Hunde benutzen. Es gab aber keine Schwalben, und Lux ließ sich nicht vertreiben. Seine Schnauze fand zwischen meine Hosenbeine, stieß die Stelle so sicher, als hätte der Hundeverleiher aus Ostpreußen ihn darauf dressiert. Mein Schuhabsatz traf ihn zweimal. Er nahm Abstand, stand zitternd, vierbeinig da und hielt mir dennoch die Schnauze mit Stock oder Stein so unbeirrbar hin, als hielte er nicht Stock und Stein, sondern meine Brieftasche, die ich in der Jacke spürte, oder die Uhr, die mir deutlich am Handgelenk tickte. Was hielt er denn also? Was war so wichtig, so zeigenswert? Schon griff ich ihm zwischen das warme Gebiß, hielt es auch gleich in der Hand, erkannte, was ich hielt, und tat dennoch, als suchte ich nach einem Wort, das jenen Fund hätte bezeichnen können, welchen mir Lux aus dem Roggenfeld brachte.
    Es gibt Teile des menschlichen Körpers, die sich abgelöst, dem Zentrum entfremdet, leichter und genauer betrachten lassen. Es war ein Finger. Ein weiblicher Finger. Ein Ringfinger. Ein weiblicher Ringfinger. Ein geschmackvoll beringter weiblicher Finger. Zwischen dem Mittelhandknochen und dem ersten Fingerglied, etwa zwei Zentimeter unterhalb des Ringes, hatte sich der Finger abhacken lassen. Ein sauberes und deutlich ablesbares Segment bewahrte die Flechse des Fingerstreckers.
    Es war ein schöner, beweglicher Finger. Den Edelstein des Ringes, den sechs

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