Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Bleiche Hand Des Schicksals

Die Bleiche Hand Des Schicksals

Titel: Die Bleiche Hand Des Schicksals Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Spencer-Fleming
Vom Netzwerk:
Zeit musste man schon schwer krank sein, ehe die Eltern einen Doktor riefen.«
    »Das stimmt«, sagte Mrs. Marshall. »Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Draußen auf der alten Farm gab es kein Telefon. Und keinen Strom. Meine Eltern besaßen bis 1929 kein Auto. Mein Vater musste mit dem Pferdewagen in die Stadt fahren und Stillman suchen, wenn sie einen Arzt brauchten.«
    Clare senkte ihre Kaffeetasse. »Ich habe im Washington County Hospital einen Dr. Stillman kennengelernt. Er sagte, er wäre in der dritten Generation Arzt in Millers Kill. Er ist orthopädischer Chirurg.«
    Mr. Madsen schnaubte. »Nun, der alte Dr. Stillman war Landarzt. Was bedeutet, dass er alles machte, vom Knochen einrichten über Babys holen bis hin zu Operationen …«
    »… auf dem Küchentisch. Mit dem Buttermesser des Patienten.« Mrs. Marshall hob eine fast unsichtbare Braue und sah ihren alten Freund an. »Du glaubst, dass früher immer alles besser war.«
    »Vielleicht hat Dr. Stillman damals nicht gern geimpft«, sagte Clare. »Weil es doch so neu war.«
    Mrs. Marshall neigte den Kopf zur Seite. »Nein, ich glaube nicht, dass das der Fall war. So wie ich mich an ihn erinnere, war Dr. Stillman ewig mit einer Nadel hinter einem her.«
    »Sie wurden immunisiert?«
    Mrs. Marshall lächelte freudlos. »Gegen alles.«
    »Ich auch«, sagte Mr. Madsen, offensichtlich ohne den Ausdruck auf dem Gesicht seiner Gastgeberin zu bemerken. »Ich glaube, du hast recht. Er konnte einem mit seiner Impferei auf die Nerven gehen.«
    »Wären Ihre Eltern mit ihren anderen Kindern zu Dr. Stillman gegangen?«
    »Ich denke schon«, erwiderte Mrs. Marshall.
    »Dr. Rouse war während ihrer letzten Jahre der Arzt Ihrer Mutter, richtig?«
    Mrs. Marshall lächelte dünn. »Allan Rouse war von dem Moment an ihr Arzt, als er versprach, im Gegenzug für die Finanzierung seines Studiums in der Klinik zu arbeiten. Nicht, dass er sie behandelt hätte. Das geschah erst, als sie schon in den Siebzigern war. Aber er gehörte ihr. Er war genauso ihre Schöpfung wie die Klinik selbst.«
    »Wissen Sie, ob sie jemals mit ihm über das gesprochen hat, was mit Ihren älteren Geschwistern passiert ist?«
    »Nein.« Mrs. Marshall nippte an ihrem Kaffee. »Sie hat nur selten über diese Zeit gesprochen. Wenn ich mich nicht an die Farm und meinen Vater erinnern könnte, würde ich vielleicht glauben, dass mein Leben erst im Alter von sechs in dem kleinen Haus in der Ferry Street begann.« Sie stellte die Tasse vorsichtig zurück auf den Unterteller. Auf dem Rand blieb ein schwacher Schimmer des Lippenstifts zurück. Scharlachrot. »Ich muss ein schwacher Ersatz für ihren Verlust gewesen sein, ein Kind statt vier. Und ich lebte und konnte Fehler begehen und unhöflich sein und enttäuschende Noten nach Hause bringen und hinter der Garage Zigaretten rauchen. Es muss schmerzlich gewesen sein, mich mit diesen vollkommenen, toten Kindern zu vergleichen.«
    »Vollkommen?«, sagte Clare.
    »Haben Sie das nie bemerkt? Jeder Tote ist vollkommen.« Sie warf einen flüchtigen Blick auf Mr. Madsen, der sie über den Rand seiner Kaffeetasse hinweg ansah. »Wie die Vergangenheit für Norm. Unveränderbar, und deshalb kann sie dich nicht desillusionieren.«
    Clare blickte in ihren Kaffee. »Haben Sie daran gedacht, dass Ihre Mutter Ihre Schwestern und Brüder vielleicht nicht erwähnt hat, weil sie Ihnen nicht das Gefühl geben wollte, Sie müssten deren Leben für sie leben?«
    »Wie meinen Sie das?«
    »Ein überlebendes Kind glaubt leicht, es müsse die Erwartungen, die die Eltern in die toten Geschwister gesetzt hatten, erfüllen.« In diesem Punkt sprach sie aus reiner persönlicher Erfahrung, gewonnen aus zahllosen Gesprächen, in denen ihre Mutter beim Namen von Clares Schwester Grace seufzte oder darauf hinwies, dass Töchter von Freunden in die Jugendmannschaft eintraten oder heirateten oder Kinder bekamen. Alles Dinge, die Grace hätte tun sollen. »Vielleicht wollte Ihre Mutter Ihnen das Gefühl geben, dass sie Sie so liebte, wie Sie waren. Dass Sie nicht versuchen mussten, Peter, Jack, Lucy oder Mary zu sein. Dass diese ihre Vergangenheit waren, Sie aber ihre Zukunft.«
    »Wissen Sie, da könnte etwas dran sein.« Norm Madsen streckte den Arm über die Tischecke und tätschelte Mrs. Marshalls zerbrechlichen Arm. »Das würde zu dem Namen passen, den sie dir gab.«
    Clare hob die Augenbrauen. »Ihrem Namen?«
    Mrs. Marshall lächelte, das erste von Herzen kommende Lächeln seit

Weitere Kostenlose Bücher