Die Bleiche Hand Des Schicksals
fröhlich, aber als sie sich umdrehte, um Nathan zu umarmen, fiel ihr Blick auf Mrs. Marshall, beherrscht und gefasst an ihrem üblichen Platz, und Clare dachte unvermittelt an das, was sie über Jonathon Ketchem herausgefunden hatte. Und plötzlich war ihr nicht mehr so friedlich zumute.
Nach dem Gottesdienst, nach der Kaffeestunde, nachdem sie mit hundert Menschen geredet, Verabredungen getroffen, Telefongespräche versprochen, sich nach leichten Beschwerden erkundigt, Neuigkeiten aus den Komiteesitzungen mitgeteilt, Schwierigkeiten bedauert und über Witze gelacht hatte, machte Clare gern allein einen Rundgang durch die Kirche.
Es war nicht nötig. Es reichte, die großen Außentüren zu schließen und zu verriegeln, nachdem der Letzte gegangen war. Das Hauptschiff hoch, den Gang hinunter, drei Minuten, fertig. Alles andere – das Abschließen des Gemeindesaals und der Küchentüren, das Einschalten der Alarmanlage –, all das passierte außerhalb der heiligen Stätte. Sie beeilte sich immer, bestrebt, nach Hause zu kommen und den Priesterrock gegen Jeans und Sweatshirt zu tauschen, bereit für den Rest des Sonntagnachmittags. Sie erhielt regelmäßig Einladungen in die Häuser der Gemeindemitglieder, oder sie ging laufen oder machte es sich mit der Sonntagszeitung gemütlich und probierte dann ein neues Rezept für das Abendessen aus. Sie freute sich auf ihren Nachmittag jenseits der Kirche. Aber ehe sie ging, besuchte sie ihre Zuflucht. Allein.
Sie verriegelte die Türen und schloss die Narthextüren hinter sich. Die Kirche war dunkel. Draußen schien hell die Sonne, aber die Strahlen, die durch die Buntglasfenster fielen, waren gefiltert, schimmerten schwach, anders als das Tageslicht, das zur Beleuchtung bestimmt war. Dieses Licht lehrte, und als sie zu Jane Ketchems Fenster trat, war sie bereit zu lernen.
Mr. Hadley wischte diesen Bereich regelmäßig, aber die langsam steigenden Temperaturen sorgten dafür, dass das Wasser rund um das Flügelfenster rann und tropfte und an das Glas spritzte. Die bannertragenden Engel schienen ihr durch Wasser entgegenzuwaten, während sie die Botschaft schwachen Trostes überbrachten. Denn er nicht von Herzen die Menschen plagt und betrübt.
Sie hatte die zum Licht aufsteigenden Gestalten immer als eine Gruppe von Kindern gesehen, aber jetzt erkannte sie, dass es zwei Mädchen und zwei Jungen waren. Peter, Lucy, Jack, Mary. Mrs. Marshall hatte gesagt, dass ihre Mutter nie von ihnen gesprochen hatte. Clare fragte sich, ob die überlebende Schwester als Kind jemals die Gräber besucht hatte. Vielleicht mit ihrer Großmutter. Das kurze Leben und der lange Tod dieser Kinder hatten ihren Schatten über so viele Menschen geworfen. Hätten sie gelebt, würde Mrs. Marshall jetzt vielleicht Kinder und Enkel und Urenkel haben, die ihr Leben bereicherten, anstelle eines leeren, alten Hauses und der Gemeindevorstandssitzungen. Es gäbe keine Jonathon-Ketchem-Klinik, weil sein Denkmal aus einem Grabstein auf dem städtischen Friedhof bestände, neben dem seiner Frau. Allan Rouse hätte einen anderen Weg gefunden, sein Medizinstudium zu finanzieren, und sich weit entfernt von Millers Kill niedergelassen. Clare würde ein vollkommen anderes Fenster betrachten. Sie schaute nach oben, wo die Dachdecker den Putz entfernten, um die fauligen Balken freizulegen. Und sie würde mit ihrer Spendenbüchse von Tür zu Tür ziehen, um wenigstens genug Geld für die nötigsten Reparaturen aufzutreiben.
Und das alles, weil vier Kinder nicht gegen Diphtherie geimpft worden waren. Kein Wunder, dass Dr. Rouse mit Debba Clow dorthin gefahren war. Beim Gedanken an Debba wandte sie sich vom Fenster ab. Was immer Allan Rouse ihr an jenem Abend erzählt hatte, es hatte sie nicht überzeugt, ihr kleines Mädchen impfen zu lassen. Falls Dr. Rouse, wie alle annahmen, Selbstmord begangen hatte, wäre Debba, soweit es den Verdacht der Polizei betraf, aus dem Schneider. Aber sie würde sich nach wie vor einem Kampf ums Sorgerecht mit ihrem Ex, und, was noch schlimmer war, einem fortwährenden Streit darüber, was das Beste für die Kinder war, gegenübersehen. Clare konnte nichts tun, um Debba von Russ Van Alstynes kurzer Liste von Verdächtigen zu streichen, aber sie konnte der Künstlerin die Unterstützung geben, die diese brauchte, um vernünftige Entscheidungen für die Zukunft zu treffen. Und der erste Schritt, beschloss Clare, war, mehr über die Vergangenheit herauszufinden.
»Hi, Mrs. Marshall«,
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