Die Blendende Klinge
außer Acht lassen konnte – Strategien, die nur eingesetzt wurden, wenn man gegen mehrere Gegner zugleich spielte, Spielvarianten mit mehr oder weniger Karten, Methoden, um Geld zu setzen, Spielmöglichkeiten, wenn alle ihre Karten von einem Stapel zogen, und so weiter. Alles für ihn uninteressant.
Dann war ihm an irgendeinem Punkt die Erkenntnis gekommen, dass er zwar die grundlegenden Strategien begriffen hatte, dass er aber, wenn er die Beschreibungen großer Spiele studierte, immer noch nicht verstand, warum Spieler ihre besten Karten nicht sofort ausspielten – und da überfiel es ihn plötzlich wie das Zischen, wenn man Feuer wandelt, und ihm eröffnete sich das Spiel hinter dem Spiel.
Spielzüge, die er für völlig nebensächlich gehalten hatte, von denen er geglaubt hatte, dass es sich vielleicht nur um irgendwelche beibehaltenen Relikte von älteren Varianten des Spiels handelte, gewannen plötzlich an Bedeutung. Strategien, um das Blatt des Gegners auszudünnen. Theorien darüber, wie man Spielstile miteinander in Einklang brachte, wenn man es mit Karten verschiedener Farben zu tun hatte. Neun Könige wurde zu einem Spiel der Mathematik, in dem es darum ging, ganze Zahlenkolonnen im Kopf zu haben und Wahrscheinlichkeiten zu berechnen. Wenn man in einer bestimmten Situation gegen ein bestimmtes Blatt spielte, hatte der Gegner mit einer Chance von eins zu siebenundzwanzig die perfekte Karte in der Hand, um einen aufzuhalten. Wenn dieser Gegner in dieser Situation einen anderen Spielzug wählte (und er logisch spielte), konnte man daraus schließen, dass er diese Karte eben nicht in der Hand hatte.
Er ging zu der Bibliothekarin mit dem riesigen schwarzen Haarkranz, Rea Siluz, und gab ihr das Buch über strategische Grundlagen zurück, von dem sie gesagt hatte, er solle es sich genau einprägen. »Das Spiel hinter dem Spiel«, sagte er. »Das Meta-Spiel.«
Sie lächelte. Sie hatte schöne, volle Lippen. »Das ging ja schnell.«
»Schnell? Es hat mich Wochen gekostet!«
»Für den nächsten Schritt solltest du nicht so lange brauchen.« Sie reichte ihm ein Buch mit einem Einband aus Lammleder. »Halte durch und lass dich nicht abschrecken. Es ist ein wenig trocken.«
Kip nahm das Buch. Sie hatte vom letzten behauptet, es sei interessant. Wenn das interessant gewesen sein sollte und dieses trocken … Aber er vergaß alle Beschwerden, sobald er das Buch aufgeschlagen hatte. »Was ist denn das?«, fragte er.
Die Schrift in dem Buch war seltsam klotzig, mit leserlichen, aber unnatürlich eng gedrängten Buchstaben. Und sie war unnatürlich gleichmäßig. Jeder Buchstabe sah aus wie der andere, ob er am Beginn, in der Mitte oder am Ende eines Wortes stand.
»Es ist ein ilytanisches Buch. Höchstens fünf Jahre alt.« Sie strahlte in unverstellter Erregung. »Sie haben herausgefunden, wie man Bücher mit einer Maschine abschreiben kann. Stell dir das nur vor! Anscheinend ist es grässlich schwierig, die erste Abschrift zu machen, aber danach kann man Hunderte von Kopien anfertigen. Hunderte! In wenigen Tagen! Die ilytanischen Schreiber laufen dagegen Sturm, sie haben Angst, dass ihr Handwerk keine Zukunft mehr hat, aber die Goldschmiede und Uhrmacher stürzen sich in Scharen auf die neuen Bücher. Es heißt, dass in Ilyta jetzt sogar Händler Bücher besitzen.«
Seltsam. Dem Buch fehlte jede Persönlichkeit. Keine menschliche Hand hatte diese Zeilen geschrieben. Es war leblos, alles das Gleiche. Kein zusätzlicher freier Raum nach einem besonders schwierigen Satz, um einem Leser Zeit zu geben, all dessen Implikationen zu verarbeiten. An den Rändern kein Platz für Notizen und Erläuterungen. Keine spezielle Aufmerksamkeit war darauf verwandt worden, die besonders denkwürdigen Sätze oder Passagen hervorzuheben, damit sie ein ermüdeter Leser ja nicht überlas. Nur die nackte Tinte und der gefühllose Abdruck einer mechanischen Walze. Sogar der Geruch war anders.
»Ich denke, dadurch wird es mich noch schneller langweilen«, bemerkte Kip. »Das macht ein Buch so … ermüdend.«
»Es wird die Welt verändern.«
Nicht zum Besseren. »Darf ich eine unhöfliche Frage stellen?«, bat Kip.
»Also, wenn du eine Frage schon so einleitest, dann im Allgemeinen … nein, solltest du lieber nicht«, antwortete Rea Siluz.
Kip versuchte, eine diplomatischere Art zu finden, sie zu fragen, ob sie ihn ausspionierte. Er schaute auf und dachte nach. »Ähm, dann … werden die Listen der von Schülern
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