Die Blendende Klinge
keinem Vergleich mit deren schierer Masse und Erhabenheit stand. Weißgetünchter Kalkstein markierte präzise die vier Himmelsrichtungen, und große Kohlepfannen brannten Tag und Nacht an jeder Ecke der Pyramide. Die großen Stufen der Ostseite waren mit poliertem Kupfer verkleidet, das in der Sonne wie rotes Gold strahlte, während die Pyramidenspitze, auf der der große Spiegel wie ein Stern in die Höhe ragte, mit Elektron ummantelt war. Je nach Jahreszeit wurde die Verkleidung aller vier Seiten umgestaltet – allerdings hatte man sich dieses Jahr angesichts der auf die Stadt zumarschierenden Armee nicht die Mühe gemacht, zum Herbstschmuck zu wechseln. Jeden Sommer wurde die Pyramide zum Garten umfunktioniert und verwandelte sich in einen wahren Blumenberg, für dessen gärtnerische Gestaltung in jedem Jahr ein neuer Oberaufseher zuständig war, während eine Adelsfamilie der Stadt die Kosten übernahm.
Zu dieser späten Jahreszeit hätten die Blumen eigentlich längst verwelkt und abgestorben sein müssen. Stattdessen standen alle Pflanzen noch immer in voller Blüte – dank des grünen Gottesbanns, hatte der Farbprinz gesagt. Dieses Jahr waren die Gärten so angelegt worden, dass sie, im alt-atashischen Kunststil, das Bild einer auf der Spitze der Große Pyramide ruhenden Sonne hervorriefen. Lilien, Gardenien, weiße Schwertlilien sowie weiße Hortensien gingen allmählich in Gänseblümchen, Hahnenfuß und Ringelblumen über. In Zickzacklinien über die Stufen verlaufend, verkörperten orange blühende Rosen, Lilien und Tulpen die Strahlen der Sonne, die durch einen Himmel aus Hyazinthen und Glockenblumen brachen. Ein Wald aus üppigem Grün nahm die Mitte ein, und das Fundament wurde aus einem Labyrinth von Rhododendron, Kamelien und Rosen jeder Farbe gebildet. An jeder Seite flossen kleine Bäche herab, die in skurrilen Aquädukten selbst die großen Stufen der Pyramide überquerten. Springbrunnen schossen Wasser in die Höhe, das dann von Dutzende Schritt tiefer liegenden Wasserbecken aufgefangen wurde. Und all das war nur eine zeitlich begrenzte Zierde, die mit der nächsten Jahreszeit durch etwas anderes und nicht minder Wundersames ersetzt werden sollte. Die Adelsfamilien von Ru versuchten sich auf diese Weise gegenseitig zu übertrumpfen.
Allein die Größenordnung des dafür aufzuwendenden Reichtums fesselte Liv und stieß sie zugleich auch ab. Diese Stadt war reich, aber schon jetzt, nach nur einer halben Stunde, hatten sie eine große Anzahl von Bettlern, Straßendirnen, Krüppeln und verwahrlosten Waisenkindern gesehen.
»Nicht anstarren«, raunte Phips Navid.
Liv wandte den Blick ab. Niemandem schien ihr Geglotze aufgefallen zu sein. Du Idiotin. Hier herumzustehen und Maulaffen feilzuhalten konnte ihre Tarnung sofort auffliegen lassen.
Aber alle Menschen schienen es eilig zu haben, waren mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt und hielten die Köpfe gesenkt. Nach zwei weiteren Minuten waren Liv und ihre Männer an der Basis der großen Pyramidenstufen angelangt. Dort stand einer der Befehlshaber der Blauen Hunde, ein blauäugiger alter Kerl mit Hakennase und fehlenden Schneidezähnen namens Paz Cavair. Er besprach sich gerade mit einem der Hauptleute der städtischen Verteidigungskräfte, der mit sechs Mann den Pyramidensockel bewachte.
»Liv!«, rief Paz. »Ich hatte gehofft, Euch hier zu treffen. Kommt herüber.«
Liv runzelte die Stirn und trottete mit ihren Männern hinüber. »Herr«, sagte sie, »ich wollte gerade drüben nachsehen, wie viel Pulver wir …«
»Darum könnt Ihr Euch später kümmern. Ich habe eine Nachricht, die Ihr Lord Aravind nach oben bringen sollt.«
Liv stellte sich absichtlich dumm, verzog das Gesicht und sagte: »Kann ich nicht einen meiner Männer schicken?«
»Nein, es ist wichtig. Nur persönlich zu überbringen. Außerdem, wie wollt Ihr dafür sorgen, dass Euer kleiner Arsch so schön knackig bleibt, wenn Ihr nicht hin und wieder mal ein bisschen schwitzt?«
Der Hauptmann und Paz lachten beide, und Livs Männer kicherten leise, als versuchten sie es zu unterdrücken.
Liv warf einen Blick auf ihre Männer. »Ich weiß nicht, worüber ihr lacht, Jungs. Wenn ich da hoch muss, dann kommt ihr mit.«
Das ließ ihr Gekicher verstummen.
Der Hauptmann lachte, aber dann wurde sein Blick unbehaglich. »Ich fürchte, dass ich nur zwei von Euch da hinauflassen kann. Wir könnten die Botschaft für Euch überbringen, wenn Ihr wollt, aber ich darf keine
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