Die Blendende Klinge
verbringen Tausende von Stunden damit, jene erste instinktive Reaktion zu trainieren, und darüber hinaus trainieren wir, die Sturzflut der Gefühle so zu kontrollieren, dass sie uns auf eine höhere Bewusstseinsstufe hebt, ohne uns dumm zu machen. Der Vorteil für uns Bogenschützinnen besteht im Folgenden: Wenn man mich überrascht, wird meine erste Reaktion die gleiche sein wie die meines männlichen Konterparts. Ich kann natürlich immer noch in Panik geraten oder von lähmender Unentschlossenheit übermannt werden. Aber wenn das nicht geschieht, ist auch mein zweiter, dritter und zehnter Schritt kontrolliert. Meine Hände werden nicht zittern. Ich werde mit einer Präzision handeln können, die einem Mann versagt ist. Aber bis ich über erhöhte Körperkraft oder Sinnesschärfe verfüge, ist vielleicht eine Minute vergangen – und dann ist es oft schon zu spät. Wo ein Mann trainieren muss, dieses rauschhafte Aufwallen zu kontrollieren, müssen wir trainieren, es zu beschleunigen. Wenn wir länger brauchen, um diesen Höhepunkt der Kampffähigkeit zu erreichen, so müssen wir uns eben früher auf den Weg machen. Das heißt, wenn ich in eine Situation gerate, von der ich weiß, dass sie gefährlich sein könnte, muss ich mich vorbereiten. Ich muss mich auf den Weg nach oben machen. Die Männer mögen miteinander scherzen, um ihre innere Anspannung zu lösen. Lasst sie ruhig. Doch ich mache da nicht mit. Vielleicht halten sie mich für humorlos, weil ich es nicht tue. Gut, meinetwegen. Das nehme ich gern in Kauf.«
Teia und die übrigen Mädchen verließen das Training an diesem Tag benommen und völlig überwältigt. Teia begriff, dass diese Frauen etwas zutiefst Anziehendes hatten, weil sie so stark und so ehrlich waren. Und diese beiden Eigenschaften waren unauflöslich miteinander verwoben. Sie sagten: Ich bin in dem, was ich tue, die Beste auf der Welt, ich kann aber nicht alles tun. Diese beiden Feststellungen zusammen gaben ihnen die nötige Sicherheit, sich jeder Herausforderung zu stellen. Wenn ihre eigenen Stärken zur Überwindung eines Hindernisses nicht ausreichten, dann reichten doch die Stärken ihrer Gruppe aus – und es war ihnen nicht peinlich, um Hilfe zu bitten, wo sie sie brauchten, denn jede wusste, dass das, was sie selbst in die Gruppe einbrachte, in einer anderen Situation genauso wertvoll sein würde.
Die Bogenschützinnen waren kompromisslos und unnachgiebig und doch vollkommen ausgeglichen. Sie achteten einander, und sie achteten sich selbst. Einige der Schwarzgardistinnen, das wusste Teia, kamen aus Sklavenfamilien, andere waren von edlem Blut. Einige waren Blaue, einige waren Grüne, Gelbe oder Rote. Manche waren Bichromatinnen, manche waren hochgewachsen, andere waren mager, andere so muskelbepackt wie Hauptmann Eisenfaust. Sie unterschieden sich voneinander – aber die Schwarzgardisten betrachteten diese Unterschiede und fragten einfach, wofür sie jeweils nützlich waren. Ein Schwarzgardist zu sein machte an erster Stelle ihre Identität aus. Alles andere rangierte dahinter.
Für ein Mädchen wie Teia, eine Sklavin und farbenblinde Wandlerin einer nutzlosen Farbe, war das, als sei die Erfüllung eines unmöglichen Traums zum Greifen nahe. Ihre Besitzerin hatte ihr befohlen, der Schwarzen Garde beizutreten, sie hatte unter der Anleitung und zum Nutzen von anderen jahrelang dafür trainiert – aber jetzt wollte sie es für sich selbst, hatte ihre eigenen Gründe dafür. Und sie wollte es von ganzem Herzen.
29
Kip und Teia drehten ihre letzte Runde – diesmal hatte Teia zu kämpfen – und hatten keine Zeit mehr, sich frischzumachen, bevor sie zum Praktikum gingen. Praxis im Wandeln, nannte Teia es. Es schien ihr davor zu grauen. Kip freute sich darauf – selbst wenn er nach Schweiß stank und völlig fertig war.
Wie gewöhnlich ging Teia voran. Das Praktikum fand auf einem anderen Stockwerk statt als ihre übrigen Kurse, auf der Sonnenseite des Turms des Prismas. Aber als sie den Raum erreichten, sah Kip, dass Grinwoody vor der Tür wartete.
Oh nein.
»Kip«, sagte der verdorrte Sklave. »Ihr seid spät dran. Der Rote wird nicht erfreut sein.«
Und mir liegt seine Freude ja auch so dermaßen am Herzen. »Was will er von mir?«, fragte Kip.
»Er wünscht Euch zu sehen.«
»Was ist, wenn ich nicht gehen will?«, fragte Kip.
Grinwoodys Augenbrauen fuhren in die Höhe. »Ihr wünscht, dass ich dem Roten Eure Weigerung übermittle?« Seine Überzeugung, dass Kip
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