Die Blueten der Freiheit
hätte ich angenommen, er wäre bereits tot. Würmer hätten sein Gesicht nicht auf die Art zerfressen können, wie es die Krankheit getan hatte. Und sicher hätten sie sich nicht mit einer solchen Schonungslosigkeit ans Werk gemacht.
Seine Augen waren geöffnet. Die Augenlider waren bereits vor langer Zeit abgefault, und bald darauf waren seine Augen blind geworden.
Doch an diesem Morgen war sein Blick so trüb, dass er nur tot sein konnte.
Wo sollte ich einen Mann begraben, der bereits vor langer Zeit vom Dorfpriester für tot erklärt worden war?
Und wie konnte ein kleiner Junge einen Mann begraben, den er nicht anfassen durfte?
Ich löste das Problem, indem ich einen abgebrochenen Ast benutzte, um ihn weiter nach hinten in die Höhle zu rollen. Dann begrub ich ihn hinter einer Mauer aus Steinen. Ich brauchte den ganzen Tag, um sie vom Fluss hinaufzutragen. Als ich fertig war, wäre es keinem Tier oder Menschen jemals gelungen, zu ihm zu gelangen. Dennoch verfolgte mich der ziegenartige Geruch seines fauligen Fleisches. Er sickerte zwischen den Steinen hindurch und aus der Höhle hinaus. Ich verbrachte den nächsten Tag damit, die Steinmauer, die ich am Tag zuvor aufgeschichtet hatte, noch weiter zu verstärken. Jemand musste mich von der anderen Seite des Flusses aus dabei beobachtet haben, denn als die Sonne an diesem Tag bereits untergegangen war, drang aus dem Wald eine Stimme zu mir. »Dann ist er also fort?«
Ich kletterte die Wand empor, die ich errichtet hatte, und legte einen letzten Stein an seinen Platz. Dann rutschte ich wieder hinunter und riss mir dabei die Hände auf. »Er ist tot.«
»Komm mit in die Stadt.« Vor mir stand der Stadtpolizist und hielt die Zügel seines Pferdes in den Händen.
Ich dachte über seinen Vorschlag nach. »Ihr meint … ich darf zurück in unser Haus?«
» Non. Da wohnt bereits wieder jemand darin.«
»Aber ich nicht. Und mein Vater auch nicht.«
»Es gehört ihm nicht länger. Er wurde für tot erklärt, Junge. Weißt du nicht mehr?«
Und ich mit ihm. Von unserem Priester. »Was soll ich dann dort? In der Stadt?«
»Betteln. So wie du es bis jetzt auch getan hast.«
Ich warf einen Blick auf die Höhle, die ich gerade versiegelt hatte. Dann betrachtete ich den Mann, der da in seinen schönen Gewändern und mit dem adretten Hut am Waldesrand stand. In die Stadt. Dort gab es nichts für mich. Bloß verächtlich dreinschauende Frauen und ihre mürrischen Ehemänner. Kleine Mädchen, die vor Angst losbrüllten, wenn sie mich sahen, und Jungen, die mich bespuckten und nach mir traten, wann immer sie die Gelegenheit dazu hatten. Es gab nichts Schlimmeres, als ein Aussätziger zu sein … doch der Sohn eines Aussätzigen zu sein kam der Sache schon sehr nahe. »Ich bleibe hier.«
Der Mann hob seinen Hut und kratzte sich am Kopf. »Und was wirst du hier machen?«
Spielte das denn eine Rolle?
»Hast du denn keine Verwandten?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Mein Vater hatte einen Vetter. In der Gascogne.«
»Und hat er auch einen Namen?«
»Ein Vicomte oder so.« Mein Vater hatte stets den Kopf geschüttelt, wenn er von ihm gesprochen hatte. Er hatte sich immer gefragt, warum der Wohlstand seines Vetters Henri nicht auch dem Rest der Familie zugutekommen konnte. »Henri. Sein Name ist Henri.«
»Wenn du beschließt, mit in die Stadt zu kommen, kannst du neben der Kirche schlafen, wenn dich der Friedhof nicht stört. Es gibt dort einen großen Baum, der dir Schutz gewähren kann.«
Ich hatte bereits sieben Jahre neben einem Toten geschlafen. Er konnte mir nicht mehr bieten, als ich ohnehin bereits hatte.
Ich blieb bei der Höhle und lebte etwa einen weiteren Monat dort. Und so fanden mich schließlich der Vicomte von Souboscq und seine Männer. Ich lebte vor einer verschlossenen Höhle und trug Lumpen, die ich als meine Kleider bezeichnete. Ich hörte sie, lange bevor ich sie sah – die Hufe ihrer Pferde trommelten auf den Boden, das Leder ihrer Sättel knarrte. Er und sein Gefolge ritten direkt auf mich zu. »Bist du Nicolas Girards Sohn?«
»Ja.«
»Dann bin ich dein Vetter. In gewisser Weise.«
Ich sah ihn an.
Er sah mich an.
»Wo ist Nicolas?«
Ich deutete hinter mich in Richtung der Höhle.
Sein Blick wanderte von mir zur Höhle und wieder zurück. »Wir sollten ihn hier in Frieden ruhen lassen. Nun denn. Du kommst mit mir. Wir können nicht zulassen, dass ein Vetter der Leforts im Wald haust, als wäre er ein einfacher Bettler.«
Ein
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