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Die Blueten der Freiheit

Die Blueten der Freiheit

Titel: Die Blueten der Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iris Anthony
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einfacher Bettler.
    Es war mir nie in den Sinn gekommen, dass ich mehr als ein einfacher Bettler oder sonst irgendjemand war. Erst sechs Jahre nachdem mich der Vicomte bei sich aufgenommen hatte, begann ich, mich wie ein Familienmitglied zu fühlen, obwohl er mich nie anders behandelt hatte. Und selbst dann fühlte ich mich, als würde ich in einem Theaterstück leben. Als könnte jeden Augenblick jemand auf mich zukommen, mir die Maske der Ehrbarkeit vom Gesicht reißen und in mir das sehen, was ich war: der Sohn eines Aussätzigen.

    Lisettes Vater führte mein Pferd in den Innenhof seines Châteaus in Souboscq, und ich glitt aus dem Sattel und berührte zum ersten Mal die sandfarbene Erde der Gascogne. Lisette kam in den Innenhof gelaufen. Ein kleines, vierjähriges Mädchen mit wippenden Locken, das aufgeregt quietschte. Ihr Vater fing sie auf und umarmte sie. Er küsste sie, bevor er sich drehte, um sie mir vorzustellen.
    Sie klammerte sich an seinen Hals und flüsterte so laut, dass ich es auch hören konnte: »Hat er einen Namen?«
    »Er heißt Alexandre. Er ist dein Vetter.«
    »Ich hatte noch nie einen Vetter.« Sie wandte sich aus seiner Umarmung, rutschte hinunter und lief auf mich zu.
    Ich hielt die Hände in die Höhe. Mehr, um sie davon abzuhalten, mich zu berühren, als um sie aufzufangen. Doch sie lief direkt in mich hinein, warf sich in meine Arme und küsste meine Wange.
    Sie küsste mich.
    Ich war noch nie zuvor berührt worden. Zumindest konnte ich mich nicht daran erinnern. Alle hatten Angst davor gehabt, den Sohn eines Aussätzigen zu berühren. Doch sie küsste meine Wange. Und ich hatte plötzlich das Gefühl, dass alles in Ordnung kommen würde. Dass ich in Ordnung kommen würde. Denn dort, inmitten des Innenhofes, hatte sie mich erlöst.

Kapitel 8
    Katharina Martens
    Lendelmolen, Flandern
    N achdem wir am Morgen gebetet und die Kommunion empfangen hatten, wuschen wir uns.
    Wir wuschen unser Gesicht und unsere Hände. Wir schrubbten alles sauber: unsere Handrücken, unsere Handflächen und unsere Fingerspitzen. Vor allem unsere Fingerspitzen. Wir wuschen uns dreimal am Tag. Dreimal, wegen der Spitze. Um zu verhindern, dass sie beschädigt wurde.
    Dann hielten wir unsere Hände hoch, damit die Schwester sie in Augenschein nehmen konnte.
    Sie blieb vor Mathild stehen.
    Die Schwester runzelte die Stirn und sagte zwei Worte: Frostbeulen. Geh.
    Ich verzog das Gesicht, als ich es hörte. Es wäre eine Katastrophe, wenn ein Geschwür über der Spitze aufbrechen würde.
    Mathild verließ ihren Platz an meiner Seite und verschwand kurz darauf in dem Flur, der zur Krankenstation führte. Ich war erst einmal dort gewesen. In dem Raum selbst war es warm, und es roch gut, aber es war dennoch kein Raum, den ich oft besuchen wollte. Wenn man zu oft dort war, kam man bald nicht mehr wieder. Im Laufe der Jahre hatte es viele gegeben, die nicht zurückgekommen waren: Elizabeth, Aleit, Johanna, Beatrix, Jacquemine und Martina. Ich wusste nicht, was mit ihnen geschehen war.
    Ihre Namen wurden nie wieder erwähnt, doch ihre Abwesenheit fiel auf. Und mit jedem Mädchen, das verschwand, wurde die … Angst größer.
    Wir anderen verließen die schützende Kirche und wanderten durch den Wind und den Regen, während das Wasser in unsere Holzpantoffeln rann.
    Wieder im Haus angekommen, gingen wir an den Kühen und Schweinen vorbei. Sie waren ebenerdig in Pferchen untergebracht und fraßen schmatzend Heu und Schweinefutter. Wir kletterten die schmale, hohe Treppe hinauf ins Obergeschoss und stützten uns dabei mit den Ellbogen an den verschmutzten und verschmierten Wänden ab, damit wir nicht stolperten. Es war uns nicht erlaubt, irgendetwas mit unseren Händen zu berühren, zumindest nicht, bis wir uns mit unseren Kissen niederließen und unsere Spulen ihre Arbeit aufnahmen.
    Ich durfte meine Spitze nur ein einziges Mal berühren, und das war, wenn ich sie erschuf. Sobald eine Kreuzung und eine Drehung vollendet waren, bedeutete das, dass die Spitze nicht mehr mir gehörte. Das kleinste Staubkorn konnte seine Spuren hinterlassen. Und der kleinste Schmutzfleck konnte sie zerstören. Ich musste sie um jeden Preis vor mir selbst schützen. Doch während ich an ihr arbeitete, während ich sie erschuf, gehörte die Spitze mir alleine. Sie gehörte so lange mir, bis sie sich über den Rand meines Kissens ergoss und in dem Seidenbeutel verschwand, der sie auffing.
    Während wir die steile Treppe emporkletterten, wurde der

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