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Die Blütenfrau

Die Blütenfrau

Titel: Die Blütenfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Lüpkes
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gegriffen. Es waren schöne Erinnerungen. Esther war sicher, ihre Tochter empfand es genauso.
    Nun saßen sie schon eine halbe Stunde vor dem gewaltigsten Bild der Emder Ausstellung: «Norddeutsche Landschaft» von Heiner Altmeppen. Die 1,50 mal 2   Meter große Acrylmalerei zeigte eine täuschend echte Vision von Ostfriesland, nur dass das Grün der Wiesen eine Spur zu grün, das Blau des Himmels eine Spur zu blau und die Wolken eine Spur zu bauschig waren. Am Horizont konnten sie eine futuristische Skyline ausmachen. Als vertraut und fremd zugleich hatte die Kunstpädagogin dieses Kunstwerk einmal beschrieben.
    Vertraut und fremd – Esther vermutete, sie und ihre Tochter hatten sich dieses Bild nicht ganz zufällig ausgesucht. Irgendwann legte Griet den Kopf in Esthers Schoß und seufzte müde: «Ach Mama.»
    Sie streichelte den Unterarm ihrer Tochter. Griets Haut wirkte schneeweiß, weil sie sich in letzter Zeit von oben bis unten in schwarzen Gewändern versteckte, die einen starken Kontrast zu ihrem hellen Teint bildeten. Nur ein paar hellrosa Striche bemerkte Esther. Narben? Man konnte sie auch für Kratzer halten, vielleicht von einer Katze.
    «Was hast du da?», fragte sie.
    Griet strich ein wenig zu schnell die Ärmel nach unten. «Vom Sport.»
    «Was macht ihr gerade in Sport? Kämpft ihr mit Raubtieren?» Der Versuch, die bange Frage hinter einem Witz zu verstecken, schlug fehl. Mit Griet konnte man keine Spielchen mehr machen. Ihre Tochter guckte wütend und wollte sich aufrichten. «Mama!»
    «Ist ja schon gut, ich lass dich in Ruhe.» Griet ließ sich wieder sinken.
    Esther spürte die Knochen, Elle und Speiche, mein Gott, war das Kind dünn geworden. Wie ein Skelett. Doch sie traute sich nicht mehr, ein Wort darüber zu verlieren.
    Früher hatte Esther eher darauf achten müssen, dass ihreTochter nicht ein paar Pfunde zu viel auf die Waage brachte. Ein Wonneproppen war Griet gewesen, ein wahres Energiebündel, immer hungrig, aber auch immer in Bewegung. Kein Baum im Garten, auf den sie nicht geklettert wäre. Und jeden Tag neue Grasflecken auf der Jeanshose.
    Wieso war sie selber damals eigentlich nicht glücklich gewesen? Was hatte sie vermisst?
    Von der Beziehung zu Gernot hatte sie sich Frieden, Erfüllung und Liebe versprochen. Aber Esther Vanmeer war sich nicht mehr sicher, ob ihre Ehe nicht genau diese drei Dinge zwischen ihr und Griet zerstört hatte.
    Heute spürte sie zum ersten Mal so etwas wie Reue, weil sie vor Jahren diesen Brief an die JVA Meppen geschrieben hatte. Sie hatte sich die Sätze so reiflich überlegt, so oft formuliert und wieder verworfen, dass sie sich auch jetzt noch Wort für Wort an die Zeilen von damals erinnern konnte:
    Lieber Gernot Huckler!
    Warum ich Ihnen schreibe? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich Ihr Bild bei mir trage, seit ich das erste Mal von Ihnen gehört habe. Und damit meine ich nicht das Bild, welches die Öffentlichkeit von Ihnen gezeichnet hat. Ich bin eine sehr spirituelle Frau, ich glaube an Verbindungen zwischen Menschen, die über den Spuk der heutigen Zeit hinausgehen. Und wenn Sie verstehen, was ich meine, dann wissen Sie auch, dass diese Synergie eine starke Wirkung haben kann, selbst wenn der eine hinter Gittern und der andere in Freiheit lebt.
    Warum ich Ihnen schreibe? Ich glaube, ich weiß es doch. Ich schreibe Ihnen, weil ich muss, weil ich sonst das unbezwingbare Gefühl hätte, die wichtigste Sache in meinem Leben verpasst zu haben.
    Ihre Esther Vanmeer
    Seine Antwort war nur eine Woche später angekommen. Esther hatte den Umschlag vor Ungeduld zerrissen.
    Liebe Esther Vanmeer!
    Ich habe mich immer schon gefragt, was das eigentlich für Frauen sind, die Briefe an Inhaftierte schreiben. Insbesondere bei Sexualstraftätern, wie ich einer bin, kann ich nicht nachvollziehen, was jemanden dazu bewegt. Zugegeben, ich habe hier in den letzten Jahren schon einen recht beachtlichen Poststapel gesammelt; es sind sehr viele Beschimpfungen darunter, aber eben auch Sympathiebekundungen und (drei !!!) Heiratsanträge. Ich habe noch nie einen dieser Briefe beantwortet. Es machte für mich keinen Sinn. Ich bin – und da will ich ehrlich sein – nicht sonderlich an erwachsenen Frauen interessiert, zudem habe ich noch eine ganze Weile hier in der JVA abzusitzen, warum also irgendwelche Kontakte knüpfen, die sowieso keine Zukunft haben?
    Bei Ihnen ist es aber anders. Ich weiß nicht, woran es liegt. Vielleicht fand ich es reizvoll, dass Sie

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