Die Blütenfrau
Fluchtreflex bei ihr ausgelöst.
Es war, als zerfiele alles um sie herum in kleine Scherben. Ein Mädchen in Griets Alter war ermordet worden. Gernot hatte sie belogen und sich zudem heute Morgen aus dem Staub gemacht. Er war entweder geflohen oder fuhr ziellos durch die Gegend, beides war nicht gut. Sein Handy lag nach wie vor zu Hause, es gab also keine Möglichkeit, mit ihm in Kontakt zu treten.
Jedes Mal, wenn das Telefon seit Mittag geklingelt hatte, war Esther an den Apparat gehastet. Einmal waren es anonyme Verwünschungen, einmal sagte ein Patient seine Termine bis auf weiteres ab, das letzte Mal wagte sich eine Journalistin in die Leitung. Eine Frau aus Hannover, dreist und über alle Maßen neugierig.
Gernot hatte nicht angerufen. War sie ihm so egal?
Esther war sich zunächst ganz sicher gewesen, dass ihr Mann den Mord nicht begangen hatte. Schließlich hatte er heute Nacht ganz ruhig neben ihr geschlafen. Nichts an ihm war auffällig gewesen.
Aber war er nicht auch in den letzten Tagen immer pünktlich zu Antonio gefahren? Und hatte er nicht gestern noch von einer Kundin erzählt, die sich den Durchmesser der Pizza von ihm hatte ausmessen lassen? Seine Lügen bewiesen einen langen Atem. Und das entzog ihr jetzt langsam die Sicherheit und das Vertrauen. Wie sollte sie den Menschen hier noch begegnen, wenn sie selbst nicht mehr wirklich daran glaubte, dass Gernot unschuldig war?
Ehrlichkeit, Offenheit, dies waren die Voraussetzungen gewesen, unter denen Gernot überhaupt bei ihr und Griet hatte einziehen dürfen. Das waren nicht ihre Kriterien, sondern die der Therapeuten gewesen, mit denen Gernot die letzten Monate seines Gefängnisaufenthaltes sehr intensiv gearbeitet hatte. Denn so einfach war es für einen wegen Kindesmissbrauchs Inhaftierten nicht, nach der Entlassung zu einer Frau mit minderjähriger Tochter zu ziehen. Gernot und sie hatten allerhand Fragen und Gespräche über sich ergehen lassen müssen. Und auch Griet war in diese Familienberatung eingebunden, hatte an fast allen Sitzungen teilnehmen müssen. Sie wurden über sämtliche Details Gernots damaliger Straftaten informiert, damit es keine Heimlichkeiten zwischen ihnen gab, die als Nährboden für neue Vertrauensbrüche dienen könnten. Eine verdammt harte Schule, durch die sie hatten gehen müssen, nur damit Gernot bei ihnen leben durfte. Und auch heute noch, ein Dreivierteljahr nach seiner Entlassung, mussten sie einmal wöchentlich die Beratungsstelle in der Bahnhofstraße aufsuchen und berichten, was in ihren vier Wänden vor sich ging. Ein Leben wie auf dem Präsentierteller, so kam es Esther manchmal vor. Ihr war ein Rückfallvermeidungsplan ausgehändigt worden, in dem auch von Anzeichen die Rede war, die einen eventuellen Rückfall ankündigen könnten. Zielloses Herumstreunern, strategische Lügen und Distanzierung waren dortgenannt. Was also hatte Gernots Verhalten der letzten Tage zu bedeuten?
Esther war verzweifelt. Nichts hielt sie in der Rosenthallohne. Auch wenn es vielleicht verdächtig erscheinen würde, es war ihr egal. Griet war sofort zu ihr in den Wagen gestiegen. Auch sie wollte nur weg. Die Schrift am Haus ignorierten beide.
Nach einer Kreuz-und-quer-Fahrt im Auto über das platte Land – Greetsiel, Pewsum, Rysumer Nacken – fanden Esther und Griet Vanmeer sich schließlich vor der Emder Kunsthalle wieder. Es war ein moderner, aber nicht protziger Backsteinbau in der Nähe des Bahnhofs, der mit seinen wechselnden Ausstellungen und den namhaften Bildern der bestehenden Sammlung nicht nur der ostfriesischen Kunstszene als Magnet diente. Griet hatte sich schon als kleines Mädchen für Malerei interessiert. Doch wie lange waren sie nun schon nicht mehr hier gewesen? Esther vermochte es nicht zu sagen.
Die Ausstellung war so gut wie menschenleer, kein Wunder, bei dem Wetter saßen normale Menschen lieber in einem Straßencafé, am Deich oder sonst wie unter freiem Himmel. Aber Esther Vanmeer und ihre Tochter waren nicht normal. Vielleicht waren sie es auch noch nie gewesen. In den hellen Räumen fanden sich nicht nur beruhigende Bilder, sondern auch Erinnerungen an die Zeit, als sie beide noch zu zweit waren, ohne Mann, ohne Gernot. Da hatten sie oft am Wochenende einen Ausflug nach Emden gemacht, bei schönem Wetter sogar mit den Fahrrädern. Sie hatten Stunden zwischen den Werken von Emil Nolde und Paula Modersohn-Becker verbracht oder in der angegliederten Kunstschule selbst zu Leinwand und Pinsel
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