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Die Blume der Diener

Die Blume der Diener

Titel: Die Blume der Diener Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Delia Sherman
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verbannen. Sie fühlte sich so schwach, so abgespannt, so alt. In der Jugend ist Schlaf eine unfehlbare Medizin, dachte sie. Wenn er das doch auch noch im Alter wäre! Sie kniete nieder, bekreuzigte sich und ergriff den Rosenkranz. Die Augen Lord Bracktons waren rot gerändert und seine Stirn zeigte tiefe Falten. Sorge und Ehrgeiz hatten ihm nur wenig Schlaf gegönnt. Lady Brackton faltete die Hände und neigte den Kopf. »Cum invocarem exaudivit me«, betete sie. »Miserere nobis.«
    König Lionel hatte als Einziger des ganzen Hofstaats tief und traumlos geschlafen. Er war beim ersten Hahnenschrei erwacht und hatte sich gewaschen. Die Aussicht auf die kommenden Ereignisse hatte ihn entflammt. Er brannte darauf, seinen Haushofmeister wiederzusehen und dieser Elinor Flower die Fragen zu stellen, die er für die Lösung des Taubenrätsels benötigte. Obwohl es noch nicht ganz hell war, befahl er Thomas Frith, Elinor zu wecken und zu ihm zu schicken.
    Gespannt wie eine Armbrust lief Lionel hin und her. Sobald sich die Tür öffnete und Elinor Flower eintrat, überschüttete er sie mit seinen Fragen.
    Wie hieß die Besitzung ihres Mannes und von wem hatte er sie erhalten? Wo lag das Nagshed-Gehöft und warum war sie dort als Stiefkind aufgezogen worden? Konnte sie sich an irgendeine adlige Dame erinnern, die sich in Elinors Kindheit um sie gekümmert oder ihre Eltern zu deren Erstaunen unterstützt hatte? Warum hatte sie sich das Haar kurz geschnitten und war verkleidet an den Hof gekommen; warum war sie nicht einfach im Schloss erschienen und hatte um Rache gebeten?
    Elinor ertrug diesen Schwall von Fragen mit zusammengepressten Lippen und gesenktem Blick. Hin und wieder spannte sie die verschränkten Arme an und schaute auf, als ob sie antworten wolle, doch Lionel plapperte immer weiter. Manchmal nannte er sie »Will«, hielt inne, lachte und bat sie für diesen Ausrutscher um Verzeihung. Die verschwommene Erinnerung an die Geschehnisse in der Halle zermürbte ihn. Elinor hatte ihre Männerkleidung noch nicht gegen einen Frauenrock eingetauscht; Lionel hatte das beunruhigende Gefühl, dass er zu jemandem sprach, der zwar Williams Gesicht trug, aber nicht William war – weder Mann noch Frau, sondern ein drittes, noch unbekanntes und namenloses Geschlecht.
    Als Lionel schließlich seine Fragen gestellt hatte, sagte er: »Ich muss all das wissen. Weißt du etwas, das uns weiterbringen könnte?«
    Elinor schaute ihre Hände an und biss sich auf die Lippen. Noch nie hatte William so krank ausgesehen – weder während der Pest noch während der größten Not des Sommers. »Ich weiß, wie die Mörderin meines Gemahls heißt«, sagte sie endlich, »und ich weiß, wo sie wohnt.«
    Lionel starrte sie erstaunt an. »Wer ist sie?«
    »Die Zauberin.«
    »Die Zauberin.« Einen Augenblick lang schwebten die Worte wie ein frisch beschworener Dämon zwischen ihnen. »Die Zauberin aus dem steinernen Turm?«, fragte Lionel.
    »So ist es, Sire.«
    Lionel raufte sich die Haare. »Dann ist sie doppelt schuldig – des Mordes an deiner Familie und der Verheerung meines Königreichs. Und doch wagen wir es nicht, uns ihr zu nähern.«
    »Wir könnten es jetzt wagen, Sire.« Elinors Worte klangen verächtlich. »Die Zauberin gebietet nicht mehr über ihre Dämonen. Sie ist nun so machtlos wie ein Bauernmädchen vor der ersten Monatsblutung.«
    Plötzlich hatte Lionel genug von allen Geheimnissen und sibyllinischen Zwiegesprächen. Zum Teufel mit dieser Frau! Musste er ihr denn all ihr Wissen Wort für Wort aus der Nase ziehen? William war offener gewesen als diese steingesichtige Fremde, die in Williams Kleidern und Kette vor ihm saß. Lionel rief aufgebracht: »Woher weißt du das? Bei den blutenden Wunden Jesu, Frau, antworte mir!«
    Elinor erklärte kalt und kummervoll: »Als ich vor zwei Nächten in der Kräuterkammer über meiner Arbeit saß, wurde ich von einer Erscheinung überrascht. Mir war, als hörte ich eine Stimme; sie geiferte, klang aber gedämpft, als komme sie aus weiter Ferne. Ich lauschte angestrengt. Die Stimme wurde immer lauter, bis sie mir in den Ohren schrillte. Sie nannte mich ein Grauen, schlimmer als der Teufel, und Lentus’ Tochter.« Sie hielt inne. »In dem Steinturm lebte einmal ein Zauberer; es heißt, dass er diese Zauberin als seine Buhlin dorthin führte. Er ging oft unter den Menschen einher, gefolgt von seinen ihm dienenden Schatten. Mein Vater … Tom Martindale sah ihn, kurz bevor ich geboren wurde.

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