Die Blumenweberin: Roman (German Edition)
Morgenröte eines Herbsttages wurde die spottende, ausgelassene Menge ungeduldig. Der alte König wartete zitternd, den Blick in die Ferne gerichtet, mit trockener Kehle und einem Kribbeln im Bauch, das er nicht mehr beherrschen konnte. Da kam endlich die weiße Zelterstute schwungvoll angetrabt, eine anbetungswürdig schöne Prinzessin auf dem Rücken, die biegsam wie ein Schilfrohr und anmutig und leicht war wie ein Weidenblatt, das der Wind aufwirbelt.
Ebenso weiß wie ihr Pferd, dessen Mähne wie ein Banner im Wind flatterte, beglückte sie die wunderselige Menge mit Liebreiz und Lächeln. Ihr goldenes Haar umgab sie wie ein Heiligenschein, der den König schon von Weitem blendete. Sie musterte die Menge mit ihren himmelblauen Augen, und den jungen Edelmännern, die sie verliebt umringten, kam es so vor, als würde sie sie mit ihren karmesinroten Lippen liebkosen. Die schöne Stute schritt über die Blumen, die für die Prinzessin ausgestreut waren, blieb plötzlich stehen, scharrte mit den Vorderhufen und wieherte laut. Dann wirbelte sie im Kreis herum, dass das Herbstlaub nur so durch die Luft flog, und die Prinzessin blieb neben dem alten König stehen und hieß ihn, hinter ihr aufzusitzen. Der weißen Zelterstute wuchsen zwei durchsichtige Flügel, und in einem Wirbelwind aus duftenden Blüten verschwanden sie in die Lüfte. Lange suchte das Volk nach seinem König, bis es müde vom vergeblichen Suchen einen neuen bestimmte, der viel jünger und schöner war. < Welche Schlüsse ich aus der Geschichte ziehen wollte, bliebe mir überlassen, meinte der junge Fleurange, aber seither mache ich mir Gedanken über die Gesundheit des Königs, Alix. Er hält sich nicht mehr an die Anweisungen seiner Ärzte und Apotheker, er ruht sich nicht aus, er leert einen Becher Wein nach dem anderen, schlemmt nächtelang und glaubt, er wäre ein junger Kavalier.
Ehe das Feuer im Kamin erlosch und Robert ging, bat er mich noch um eine Viola, streichelte sie ein Weilchen zärtlich wie die samtweiche Haut einer schönen Frau, und nachdem er sie gestimmt hatte, summte er folgendes Liedchen gedankenverloren vor sich hin:
»Mary kam zum Essen und zum Trinken den guten alten König ließ in Liebe sie versinken. Doch eines Tages war’s um sie geschehen, sie verschwand, und keiner hat sie mehr gesehen.«
Die beiden Geschichten gehören natürlich irgendwie zusammen. Endlich war es Robert gelungen, mich zum Lächeln zu bringen, und er ist gegangen. Ach, liebste Alix, soll ich nun verzweifeln oder Hoffnung schöpfen? Ich weiß gar nicht mehr, wo mir der Kopf steht vor lauter Angst, François könnte diesen irreparablen Fehler begehen. Er kann alle Mädchen haben bis auf eine, Mary of York, die Schwester des englischen Königs, die neue Königin von Frankreich, aber er begehrt ausgerechnet sie. Leider bin ich kaum in der Stimmung, mich mit Euch und mit Eurem neuen Glück zu befassen. Ihr schreibt, dass Ihr geheiratet habt, und ich wünsche Euch Glück und Zufriedenheit für Euer neues Leben als Mutter und Weberin!
Lieber Himmel! Wird mein Sohn eines Tages doch noch König von Frankreich? Wird er den Thron besteigen und triumphieren? Wenn es endlich so weit ist, bestelle ich bei Euch die schönsten Teppiche, die man sich vorstellen kann, Alix. Und alle europäischen Königshäuser werden uns um ihre schillernde Pracht beneiden.
In Erwartung dieses Tages umarmen und küssen Euch Marguerite und ich.
Herzliche Grüße von Eurer
Louise.
Sollte sich Alix jetzt schon überlegen, was sie für den neuen König von Frankreich weben wollte? Was, wenn er niemals den Thron besteigen würde? Was, wenn sich Ludwig XII. länger als erwartet ans Leben klammern würde? Was, wenn François nur als Regent über das Königreich herrschen würde, bis ein Thronfolger der jungen Mary mündig geworden war?
Alix seufzte. Das war ihr alles viel zu kompliziert. Jetzt wollte sie lieber darüber nachdenken, wie sie es anstellen könnte, Maître Bellinois des Diebstahls zu überführen.
24.
Auch an diesem Morgen winkte Bertille mit einem Brief. Obwohl noch Herbst, war es bereits ziemlich kühl. In ein paar Tagen wollte Mathias nach Hause kommen, und wenn er die Galanterien auch nicht gefunden hatte, brachte er doch bestimmt einige neue Aufträge mit; falls er Emmanuel Riccio getroffen hatte, vielleicht auch die Aussicht auf ein gemeinsames Verkaufskontor in Brüssel.
»Hier ist wieder ein Brief für dich, Alix«, sagte die alte Haushälterin. »Diesmal
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