Die blutende Statue
Blut und Tränen gab es allerdings eine Ausnahme, einen gewaltigen Spaß, einen der größten Schwindel aller Zeiten, der mit unerhörter Dreistigkeit ausgeführt wurde.
1913 gärte es in Albanien. Diese politische Unruhe war das Ergebnis einer allgemeinen Krise, die die ganze Gegend erschütterte. Auf der einen Seite standen Griechenland, Serbien und Montenegro, auf der anderen die Türkei. Um die ganze Situation zu verkomplizieren, mischten sich auch noch Italien und Russland ein.
Ohne weiter ins Detail zu gehen, ist für unsere Geschichte nur wichtig, dass Albanien 1912 nach einem Aufstand unabhängig wurde und sich von der Türkei, der mächtigen Besatzungsmacht, löste. Obwohl das Land nun selbstständig war, hatte es noch keinen Herrscher. Seit Monaten verhandelten die in London versammelten Großmächte verbissen über diese Frage.
Im Grunde waren sie sich einig, Albanien einen europäischen König zu geben, wie sie es schon ein Jahrhundert zuvor bei Griechenland gemacht hatten, nur konnten sie sich nicht einigen, welcher Nationalität das zukünftige Staatsoberhaupt sein sollte. Sollte man einen Franzosen, Engländer oder Deutschen nehmen? Am grünen Tisch wurde endlos diskutiert.
Nun hatten aber die Albaner, um die sich die Verhandelnden in London offenbar wenig scherten, auch eine eigene Meinung in dieser Frage. Sie verspürten nicht die geringste Lust, einen fremden Monarchen vorgesetzt zu bekommen, und da sie fast alle Moslems waren, hätten sie auch gern einen König ihrer Religion gehabt. Sie hatten sich sogar schon einen ausgeguckt: Halim Eddine, den Neffen des Sultans von Istanbul. Auch General Essad Pascha, der Kommandant der albanischen Armee und provisorische Machthaber, war dieser Meinung. Die Frage war nur, ob die Türkei, gegen die sich Albanien ja eben erst erhoben hatte, auch mit dieser Lösung, das heißt einer Versöhnung, einverstanden war. Darin bestand das ganze Problem.
Sowohl glücklich als auch ratlos wegen ihrer frisch erworbenen Unabhängigkeit warteten die Albaner also, bis General Essad Pascha am 8. August 1913 — o Wunder — ein kurzes Telegramm erhielt, das ihn in Entzücken versetzte: »Prinz Halim Eddine trifft ein.«
Es ist wohl überflüssig zu sagen, dass die Bevölkerung in einen Freudentaumel geriet, als sich die Nachricht herumsprach. Die Albaner bekamen also den König, den sie sich wünschten. Der zukünftige Herrscher sollte am 10. August 1913 in Durazzo, dem Hafen von Tirana, eintreffen.
Am angekündigten Tag versammelte sich in dem kleinen Hafen eine eindrucksvolle Menge. Die Albanerinnen und Albaner waren in ihrer schillernden, pittoresken Festtracht herbeigeströmt. Alle hatten Rosen mitgebracht, um sie zu rupfen und die Blütenblätter vor Halim Eddine auf den Weg zu streuen. Ganz vorn stand Essad Pascha in Paradeuniform zusammen mit den Befehlshabern der kleinen Armee und den wichtigsten Persönlichkeiten des Landes.
Endlich legte das Schiff an. Übrigens handelte es sich dabei um den regulären Dampfer, der die Route zwischen Istanbul und Venedig abfuhr und in Durazzo Zwischenstation machte. Eine Gestalt erschien und stolzierte mit kriegerischem Schritt den Laufsteg hinunter. Das war er, das war Halim Eddine, ihr Prinz, ihr zukünftiger König.
Als er näher kam, konnte man ihn besser erkennen. Halim Eddine war von hoher Statur. Unter dem roten Fez umrahmte graues Haar ein majestätisches Antlitz. Ein buschiger Schnurrbart verstärkte noch die imposante Erscheinung. Orden, die in der Sonne funkelten, und eine in allen Regenbogenfarben schillernde Schärpe bedeckten seine Brust. Hinter ihm stand ein Türke in Seidengewand und Turban.
Ein entzücktes Raunen lief durch die albanische Menge. Halim Eddine war noch schöner als erwartet. Schon wurden Rosensträuße geschwenkt und die ersten Rufe erschallten.
Essad Pascha ging auf den Neffen des Sultans zu. Im Grunde war er ziemlich kleinlaut. Wie würde wohl der zukünftige Monarch reagieren, der ja einer Nation angehörte, die er selbst vor kurzem noch bekämpft hatte? Würde er ihn als Armeechef behalten?
Sobald Essad Pascha vor Halim Eddine stand, warf er sich zu Boden und reichte dem Prinzen wortlos das Schwert des Oberbefehlshabers. Halim Eddine bewies jedoch gleich von Anfang an, dass er das Zeug zum Herrscher hatte. Er wies das Schwert zurück, forderte den General auf, sich zu erheben, und umarmte ihn feierlich.
Die Menge tobte vor Begeisterung. In einer Wolke von Rosenblättern und
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