Die blutende Statue
Vermögens. Clarissa ließ sich immer häufiger auf Geschäfte ein, die sich als Flop erwiesen, und konnte bald nicht mehr die Zinsen für ihre Darlehen aufbringen. Ein Bankier, der weniger gutgläubig als die anderen war, erstattete Strafanzeige. Schließlich wurde der berühmte braune Umschlag geöffnet. Er enthielt lediglich wertlose Aktien. Eine allzu vertrauensselige Bank machte Konkurs, weil sie »Carnegies Tochter« zu viel geliehen hatte; alle Anleger waren ruiniert. Mrs Fenwick wurde festgenommen und zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt.
Andrew Carnegie trat bei dem Prozess als Zeuge auf. Erstaunt erklärte er, dass er die Angeklagte, die weder eine eheliche noch eine uneheliche Tochter von ihm sei, noch nie gesehen habe. In den zwanzig Minuten, während der sie sich in seiner noblen Villa in New York aufgehalten hatte, war sie lediglich dem Hausmeister begegnet, den sie mit einem Wortschwall zum Schweigen gebracht hatte. Beim Verlassen des Hauses hatte sie den braunen Umschlag aus ihrer
Handtasche gezogen, der sich von Anfang an darin befunden und den sie selbst mit Aktien gefüllt und versiegelt hatte.
Die raffinierte Kanadierin starb zwei Jahre nach ihrer Verurteilung hinter Gittern.
Gezeichnet »Attila«
Im Jahre 1862 ging Michel Chasles auf die siebzig zu. Er war ein angesehener Wissenschaftler, ein Genie sogar, weil er die Geometrie völlig revolutioniert und modernisiert hatte. Seine Zeitgenossen waren darum nicht undankbar und belohnten ihn nach Gebühr. Er war Professor an der angesehenen École polytechnique, Inhaber des eigens für ihn geschaffenen Lehrstuhls für angewandte Geometrie an der naturwissenschaftlichen Fakultät, Mitglied der französischen Akademie der Wissenschaften und der Akademie von Brüssel. Darüber hinaus war er noch Kommandant der Ehrenlegion und trug die Copley-Medaille, die höchste Auszeichnung, die England einem Wissenschaftler verleihen konnte.
Doch an diesem überlegenen Verstand, diesem mit Ehren überhäuften Mann, der darüber hinaus auch noch steinreich war, nagte insgeheim eine Frustration. Er sammelte mit Leidenschaft alte Handschriften, für die er jederzeit bereit war, viel Geld auszugeben, doch hatte er bislang leider nur Dokumente von zweitrangiger Bedeutung entdeckt.
Eines Tages ließ sich bei ihm zu Hause ein Besucher anmelden, um ihm einen handschriftlichen Brief von Molière anzubieten. Hastig ließ er ihn hereinbitten. Der Mann war um die fünfzig, obwohl man sein Alter nur schwer bestimmen konnte. Er war bucklig, fast kahl und trug eine schmale Brille mit Stahlgestell. Er verkörperte beinahe die Karikatur eines Bücherwurms. Bescheiden, fast unterwürfig, stellte er sich vor.
»Mein Name ist Vrain-Lucas, Monsieur. Ich stamme aus Lanneray bei Châteaudun.«
»Und ich komme aus Chartres. Wir sind praktisch Landsleute.«
Dies war der Beginn einer herzlichen Geschäftsfreundschaft. Behutsam zog Vrain-Lucas das Manuskript aus einer Ledermappe. Es war wirklich mit »Molière« unterzeichnet und an einen ansonsten unbekannten Adressaten gerichtet.
»Dafür verlange ich fünfhundert Franc. Das ist es wert.«
Den Preis stellte der Akademiker nicht in Frage, nur wollte er wissen, aus welcher Quelle das Dokument stammte. Darauf trat der bucklige Brillenträger näher und sagte vertraulich: »Es handelt sich um eine Sammlung.«
»Eine Sammlung?«
»Die des Grafen von Boisjoudrain, der 1791 nach Amerika ausgewandert ist. Sein Schiff ist gesunken und er ertrank, doch konnte man die Kiste mit seinen Briefen retten. Sie gehören jetzt einem alten Monsieur, der in Armut geraten ist. Er hat mich beauftragt, sie zu verkaufen.«
»Hat er noch viele andere Briefe?«
»Ein paar tausend.«
Die Augen des großen Geometers funkelten vor Begierde wie die eines Kindes, das an einem Süßwaren-laden vorbeigeht.
»Sie müssen mir versprechen, nichts zu verkaufen, ohne mir vorher davon zu erzählen, Monsieur Lucas.«
»Versprochen, so wahr ich aus dem Beauce stamme. Unter Landsleuten muss man sich helfen. Ich bitte Sie nur, niemandem davon zu erzählen. Der Brief von Molière war lediglich eine Kostprobe. Ich habe sehr viel bessere.«
Kurz darauf kehrte Vrain-Lucas wirklich mit etwas sehr viel Besserem zurück. Und das war noch untertrieben, weil es sich um einen Brief Cäsars an Vercingetorix handelte.
»Ich sende dir einen guten Freund, der dir den Zweck meiner Reise nennen wird. Ich will das Land, dem du entsprungen bist, mit Soldaten überrennen.
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