Die Blutgabe - Roman
zu sprengen drohte, gegen die Bluter zu richten?
Nichts, dachte Red. Gar nichts. Also machte er einfach immer weiter, während das Vergessen sich Tag für Tag weiter in seine Erinnerung fraß.
Als sie in die Eingangshalle von Insomniac Mansion traten und die Dunkelheit und Kälte der Stadt endgültig hinter sich ließen, blieb Chase so abrupt stehen, dass Red beinahe in ihn hineingelaufen wäre. »Scheiße.«
Red warf ihm einen verwirrten Blick zu.
»Was …?«
Er brach ab. Denn jetzt, wo Chase ihn aus den finsteren Grübeleien gerissen hatte, die wie ein dickes Tuch über seinen Sinnen lagen, hörte er es auch. Eine leise Stimme, die wortlos in seinem Kopf erklang. Eine Stimme, die er kannte – und die er doch um diese Zeit als Allerletztes zu hören erwartet hätte.
»Kris …«, murmelte Red. »Warum jetzt?«
Er wechselte einen Blick mit Chase.
»Verdammt. Was soll der Mist?« Zwischen Chase’ Brauen war eine steile Falte erschienen. »Du also auch?«
Red nickte langsam. »Er sagt, ich soll nach oben kommen.« Er schloss die Augen und lauschte. »Ins hohe Turmzimmer.«
Während sie die Treppe hinaufstiegen, öffneten sich nach und nach auch die Türen zu den Zimmern der anderen Menschen. Bruce und Sarah waren offenbar ebenfalls erst kürzlich von ihrem Außeneinsatz zurückgekehrt und trugen noch ihre blutbefleckte Kleidung. Im Gegensatz zu Chase und Red hatten sie allerdings schon ihre Waffen abgelegt und ihre Gesichter gewaschen. Will, Claire und Michael hingegen schienen aus dem Schlaf gerissen worden zu sein, ohne dass man ihnen noch die Zeit gelassen hätte, ihre Schlafanzüge gegen andere Kleidung einzutauschen oder auch nur ihre Haare zu kämmen.
Red hatte noch nie erlebt, dass er auf dem Weg ins zweite Stockwerk nicht allein war. Umso merkwürdiger erschien es ihm jetzt, mit den anderen Executives gemeinsam die schmale Treppe hinaufzusteigen. Es war, als würde der schattenverhangeneKorridor allein dadurch ein Teil seiner irrealen Atmosphäre verlieren, als würde er greifbar werden durch die Anwesenheit der Menschen, die er sonst nie hier sah. Einer nach dem anderen stiegen sie die Wendeltreppe hinauf in den Turm. In das Zimmer der Prüfungen, das den klangvollen Namen »The Highest Place« trug.
Die Vampire erwarteten sie. Die Morgensonne umspielte ihre Gestalten mit hellem Licht, in dem nur Kris seine Dunkelheit zu bewahren schien. Tatsächlich war er der Einzige, der aussah wie immer, dachte Red, und nicht durch das freundliche Licht geradezu unscheinbar. Aber vielleicht lag das auch nur daran, dass er Kris so gut kannte.
Als der Blick des Vampirs sich mit Reds kreuzte, lächelte er.
Auch das Turmzimmer selbst wirkte heute ganz anders als bei Reds Prüfung. Er hatte es kleiner in Erinnerung gehabt. Düsterer und beklemmender. Aber jetzt, bei Tageslicht, war der Raum mit seinen großen Fenstern hell und geradezu freundlich.
Er hatte jedoch keine Zeit, weiter darüber nachzudenken – denn nun trat Céleste vor und musterte sie einen nach dem anderen mit ihrem intensiven Blick.
»Es freut mich, dass ihr alle gekommen seid.«
Erst jetzt fiel Red auf, wie lange es her war, dass er zuletzt ihre Stimme gehört hatte. Das Lied, das darin klang, berührte ihn noch immer – aber erstaunlicherweise zog es ihn nicht mehr so sehr in seinen Bann wie damals. Damals – nun ja. Vor einigen Monaten. Doch Red kam es unglaublich lange her vor.
Aus dem Augenwinkel sah er Chase spöttisch lächeln. Red kannte ihn inzwischen gut genug, um zu ahnen, was er dachte.Es war immerhin nicht so, dass sie freiwillig hier herauf gekommen waren.
Auch Céleste hatte das Lächeln offenbar bemerkt, denn sie bedachte Chase mit einem sanft tadelnden Blick – der ihn allerdings nur wenig zu beeindrucken schien.
»Wie ihr euch sicher denken könnt, gibt es einen besonderen Anlass, aus dem wir euch heute zusammengerufen haben«, fuhr sie fort. »Es tut mir leid, euch deswegen von eurer verdienten Ruhe abzuhalten. Ich verspreche, ich werde mich so kurz wie möglich fassen.«
Sie lächelte erneut, und Red fragte sich, wie es überhaupt irgendjemandem möglich sein sollte, ihr etwas zu verübeln. Er selbst wäre sehr zufrieden damit gewesen, einfach hier zu stehen und ihrer singenden Stimme zu lauschen, ganz gleich, was sie sagte. Aber er ahnte, dass er, genau wie alle anderen, diesmal genau zuhören musste – und dass sie deshalb ganz bewusst den Einfluss ihrer Stimme gedämpft hatte.
»Wie ihr ja wisst, nutzt
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