Die Blutgraefin
einzuholen.
Zum ersten Mal stellte sich Andrej die Frage, was er Stanik eigentlich sagen sollte. Er wusste es nicht. Andrej gestand sich bedrückt
ein, dass er wohl keine andere Wahl hatte, als den Jungen niederzuschlagen und ihn gefesselt und geknebelt zum Hof zurückzutragen,
damit er sich mit eigenen Augen davon überzeugen konnte, dass seine Verlobte am Leben und an Leib und Seele unbeschadet war.
Ein weißer Schemen huschte über ihm durch die Baumwipfel. Andrej hörte das Schlagen großer, kraftvoller Flügel und glaubte, die
Berührung einer unsichtbaren, eisigen Hand zu spüren, die seine Seele streifte. Dann war das Geräusch verklungen, und Dunkelheit und
Stille des nächtlichen Waldes schlugen wie eine Woge über ihm zusammen.
Andrej sah sich mit klopfendem Herzen um. Er war nicht sicher, ob
er sich das alles nicht nur eingebildet hatte, doch als er lauschte, fiel
ihm auf, wie unnatürlich still es war. Alles, was er hörte, war das
entfernte Geräusch der Hufschläge, das nun wieder größeren Abstand
zu gewinnen begann, und seine eigenen Atemzüge. Sonst nichts. Der
Wald war vollkommen still. Als wäre alles Leben in weitem Umkreis
erloschen.
Andrej mahnte sich zur Ruhe. Schließlich war es mitten in der
Nacht im tiefsten Winter, und vermutlich hatte allein schon der Lärm
der Pferdehufe und seiner eigenen Schritte die wenigen Nachtjäger,
die sich nicht im Winterschlaf befanden oder in wärmere Gegenden
gewandert waren, vertrieben. Blanche war nicht hier.
Trotzdem ertappte er sich dabei, immer wieder nach rechts und
links zu blicken, während er weiterlief. Er beschleunigte seine Schritte deutlich, um Stanik einzuholen. Der Junge musste halb wahnsinnig
vor Angst sein.
Andrej hackte sich immer rücksichtsloser einen Weg durch das
dichte Unterholz. Mehr als einmal verfing sich ein dorniger Zweig in
seinem Mantel oder ein tief hängender Ast peitschte in sein Gesicht
und verletzte ihn. Er konnte keine Rücksicht nehmen. Stanik war
vielleicht nicht der Einzige, der zu dieser späten Stunde im Wald
unterwegs war, und er musste ihn um jeden Preis einholen, bevor er
mit irgendjemandem reden konnte.
Als würde sich eine bekannte Szene wiederholen, vernahm er plötzlich das schrille Wiehern eines Pferdes, brechende Äste, das Klirren
von Metall, den gellenden Schrei aus einer menschlichen Kehle, in
dem sich Entsetzen mit Schmerz mischte. Er hörte ein Zischen, einen
hohen, rasselnden Laut, der so fremd und voller Wildheit war, dass
sich Andrejs Nackenhaare aufstellten. Dann fiel ein Körper mit einem dumpfen Laut aus großer Höhe in den Schnee.
Andrej stürmte los. Ohne das Schwert zu benutzen, brach er einfach
mit seinem Körper durch das Unterholz, wobei er die kleinen Verletzungen und Schrammen, die er sich zuzog, nicht einmal zur Kenntnis
nahm. Vor ihm wieherte noch immer ein Pferd im Todeskampf, aber
er hörte auch die hämmernden Hufschläge eines zweiten Tieres, die
sich schnell entfernten, um dann mit einem plötzlichen, dumpfen
Laut, einem schrillen Kreischen und dem hässlichen Geräusch von
brechenden Knochen zu verstummen.
Das Zischen war noch immer zu vernehmen, und ein Wimmern, das
kaum noch als menschlich zu erkennen war. Andrej konnte sich nicht
erinnern, jemals zuvor einen solchen Klang von Grauen und Wahnsinn gehört zu haben. Obwohl er so schnell rannte, wie er nur konnte,
versuchte er noch einmal, seine Schritte zu beschleunigen, brach
durch ein letztes Gebüsch - und prallte so entsetzt zurück, dass er
vom Schwung seiner eigenen Bewegung fast umgerissen worden
wäre, wäre er nicht mit der Schulter gegen einen Baum geprallt.
Es war kein Bild aus einem Albtraum. Es war schlimmer.
Das Pferd, dessen Todesschreie er gehört hatte, lag sterbend vor
ihm zwischen den Bäumen. Seine Kehle war aufgerissen, sodass das
Blut in einem pulsierenden Strom hervorsprudelte und den Schnee
rot färbte. Der Geruch brachte ihn fast um den Verstand.
Stanik war wenige Schritte neben seinem Pferd zu Boden gestürzt
und hatte sich offenbar rücklings kriechend in Sicherheit zu bringen
versucht, bis ein Baum seiner Flucht ein Ende gesetzt hatte. Dort
lehnte er mit angezogenen Knien und schützend vor das Gesicht gerissenen Armen. Es war kein Mensch, was dort vor ihm stand. Es war
nichts, was Andrej jemals zuvor gesehen hätte.
Die Kreatur war so groß wie ein Kalb, aber massiger. Andrej glaubte, einen aufgedunsenen, in der Mitte eingekerbten Leib zu sehen,
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