Die Blutige Sonne - 14
Haar unter der Kopfbedeckung unsichtbar blieb. Er ließ sich Zeit, seinen nächsten Schritt zu überlegen. Falls es einen nächsten Schritt gab.
Tatsache eins: Das Waisenhaus hatte keine Unterlagen über einen Jungen namens Jefferson Andrew Kerwin, der im Alter von zwölf Jahren zu seinen Großeltern nach Terra geschickt worden war.
Tatsache zwei: Die zentrale Datenverarbeitung im Hauptquartier weigerte sich, irgendwelche Informationen über Andrew Kerwin senior herauszugeben.
Kerwin war sich selbst nicht im klaren darüber, was diese beiden Tatsachen gemeinsam haben konnten. Dazu kam noch der Umstand, daß die Datenmaschine offensichtlich so eingestellt war, daß sie auf bestimmte Anfragen die Antwort verweigerte und nicht einmal die Information gab, daß ein Mensch wie sein Vater überhaupt je existiert hatte.
Wenn er nur einen Bekannten aus dem Waisenhaus finden könnte! Vielleicht wäre das eine Art Beweis. Beweis wenigstens dafür, daß seine Erinnerungen an die Zeit, die er hier verbracht hatte, richtig waren.
Und sie waren richtig. Davon mußte er ausgehen, denn es gab keinen anderen Ausgangspunkt. Wenn er erst begann, seinen eigenen Erinnerungen zu mißtrauen, dann konnte er ebensogut sofort das Tor zum Chaos aufstoßen. Also mußte er von der Annahme ausgehen, daß seine Erinnerungen ihn nicht trogen und daß aus irgendeinem ihm unbekannten Grund seine Unterlagen zurückgehalten wurden.
In der dritten Woche fiel ihm auf, daß ihm der Mann Ragan etwas zu oft über den Weg lief. Das konnte kein Zufall mehr sein. Zuerst machte er sich keine Gedanken darüber. Immer wenn er das Raumhafencafe betrat, sah er Ragan an einem der Tische sitzen, und er nickte ihm einen Gruß zu; das war alles. Schließlich war das Cafe ein öffentliches Lokal, und zweifellos hatte es viele ständige Besucher und Stammgäste. Er selbst war schon fast einer geworden.
Eines Abends aber, als eine Panne im Ausgangsbüro der Nachrichtenabteilung ihn ungewöhnlich lange zurückhielt und Ragan noch immer auf seinem Stammplatz saß, fiel es ihm auf. Bis jetzt war es nur eine Vermutung; er wechselte seine Tischzeiten und aß zu außergewöhnlichen Zeiten, und fast immer sah er den dunkelhaarigen Ragan dort. Dann besuchte er ein anderes Lokal, trank in einer anderen Bar. Und nach einigen Tagen wußte er bestimmt, daß dieser Mann ihn beschattete. Nein, beschatten war nicht das richtige Wort; es war viel zu deutlich. Ragan gab sich gar keine Mühe, sich außerhalb von Kerwins Sichtweite zu halten. Er war außerdem zu klug, sich Kerwin aufzudrängen, aber er kreuzte ständig dessen Weg, und Kerwin hatte das sichere Gefühl, daß er ihn bemerken sollte, daß Ragan auf eine Frage wartete.
Aber weshalb? Er überlegte lange und gründlich. Wenn Ragan ein Spiel spielte, dann bestand vielleicht ein Zusammenhang zwischen diesem und den übrigen geheimnisvollen Merkwürdigkeiten. Wenn er aber so tat, als bemerke er nichts, dann würde er sie – wer immer diese „sie“ waren – zwingen, sich etwas offener zu zeigen.
Es geschah aber nichts, und er gewöhnte sich langsam an die neue Arbeit und das neue Leben. In der Enklave lief das Leben im großen ganzen genau so ab wie in jeder Terra-Zone auf anderen Planeten. Aber er war sich der Welt jenseits der anderen sehr bewußt. Sie lockte ihn mit eigenartigem Zauber. In dem Durcheinander der Raumhafencafes spitzte er die Ohren, um ein paar Brocken Darkovaner-Unterhaltung zu erhaschen; er hörte sich selbst geistesabwesend auf gelegentliche Fragen im Darkovaner-Dialekt in dieser Sprache antworten. Und manchmal nahm er nachts den geheimnisvollen blauen Kristall von der Kette, die er um den Hals trug, starrte in seine fremdartigen kalten Tiefen, als könne er die verwirrten Erinnerungen zurückbringen, zu denen dieser Stein der Schlüssel zu sein schien. Aber dann lag der Stein auf seiner Hand, kalt, leblos, ohne Antwort auf die quälenden Fragen in Kerwins Innern. Und immer steckte er ihn wieder in die Tasche zurück, lief ruhelos zu einer Bar im Raumhafenviertel, um etwas zu trinken, sperrte Ohren, Augen und Nase auf, um einen Hauch dessen zu erhaschen, was jenseits seines Verstehens liegen mochte …
Es dauerte volle drei Wochen, bis die Falle endlich zuschnappte. Aus irgendeinem Impuls heraus strich er um die Bar herum, ohne zu überlegen, was er tun oder sagen wolle, und ging dann schließlich geradenwegs auf den Ecktisch zu, an dem Ragan, der kleine Darkovaner, vor einem dreieckigen Becher mit
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