Die blutige Sonne
Kelchs ernst an, und dann senkte sie die Augen. Aber er hatte das Gefühl, als ob auch sie gesagt habe: »Willkommen zu Hause.«
Mesyr stellte ihr Glas entschlossen hin.
»Genug für heute. Wir sind die ganze Nacht aufgeblieben, um zu sehen, ob es ihnen gelingt, dich sicher herzubringen. Und deshalb schlage ich vor, daß wir alle jetzt zu Bett gehen und den Schlaf nachholen.«
Elorie rieb sich kindlich die Augen mit den Fäusten und gähnte. Auster begab sich an Elories Seite und erklärte zornig: »Du hast dich wieder völlig verausgabt. Für ihn !« setzte er mit wütendem Blick auf Kerwin hinzu. Er sprach weiter, aber er wechselte zu einer Sprache über, die Kerwin nicht verstehen konnte.
»Komm mit mir.« Mesyr nickte Kerwin zu. »Ich bringe dich nach oben und zeige dir ein Zimmer. Erklärungen haben Zeit, bis wir alle geschlafen haben.«
Mesyr führte Kerwin einen breiten, widerhallenden Gang entlang und eine lange Treppe mit Mosaikstufen hinauf. Einer der Nichtmenschen trug ein Licht vor ihnen her.
»Etwas, an das es uns nicht mangelt, ist Platz«, erläuterte Mesyr. »Wenn dir also dein Zimmer nicht gefällt, suche dir ein anderes aus, das leer ist, und ziehe um. Die Räume sind für zwanzig oder dreißig Personen gedacht. Früher hatte man hier drei vollständige Kreise, jeder mit seiner eigenen Bewahrerin, und wir sind nur noch acht – mit dir neun. Das ist natürlich der Grund, warum du hier bist. Einer der Kyrri wird dir alles zu essen bringen, was du möchtest, und wenn du Hilfe beim Ankleiden oder dergleichen brauchst, sage es ihm. Es tut mir leid, daß wir keine menschlichen Dienstboten haben, aber sie können nicht durch den Schleier kommen.«
Bevor Kerwin weitere Fragen stellen konnte, sagte Mesyr: »Wir sehen uns bei Sonnenuntergang. Ich schicke dir jemanden, der dir den Weg zeigt.« Damit ging sie. Kerwin stand da und sah sich in seinem Zimmer um.
Es war groß und luxuriös, kein einzelnes Zimmer, sondern eine Suite. Die Möbel waren alt und die Tapeten verblaßt. In einem Innenraum stand ein großes Bett auf einer Plattform. Generationen von Füßen hatten die Fliesen des Fußbodens abgetreten, aber die Bettwäsche war frisch und weiß und duftete schwach nach Weihrauch. Ein paar alte Bücher und Schriftrollen standen und lagen auf Brettern, dazu zwei Musikinstrumente. Kerwin hätte gern gewußt, wer in diesem Raum gelebt hatte, und vor wie langer Zeit. Der kleine pelzige Nichtmensch öffnete Vorhänge, um Licht in den Außenraum zu lassen, zog sie im Innenraum zu und schlug das Bett auf. Bei seiner Erkundung der Suite entdeckte Kerwin ein Bad mit beinahe sybaritischem Luxus. Die versenkte Wanne war groß genug, um darin zu schwimmen. Die dazu passende Einrichtung sah fremdartig aus, doch er entdeckte, daß es alles gab, was ein Mensch sich wünschen konnte, und noch ein paar Dinge, die er sich selbst nie hätte einfallen lassen. Auf einem Brett standen ein paar kleine Krüge aus Silber und geschnitztem Elfenbein. Neugierig öffnete er einen. Er war leer bis auf einen eingetrockneten Bodensatz. Ein kosmetisches Mittel oder Parfum, ein geisterhaftes Überbleibsel einer lange toten Comyn - Leronis , die einst in diesen Räumen gelebt hatte. War das Zimmer mit Geistern gefüllt? Das Parfum weckte eine neue halb vergrabene Erinnerung in ihm. Er glaubte, es gerochen zu haben, als er sehr klein war, und er blieb ganz still stehen und suchte in seinem Gedächtnis. Aber die Erinnerung entschlüpfte ihm … Kerwin schüttelte entschlossen den Kopf und schloß den Krug. Die Erinnerung wich zurück, ein Traum innerhalb eines Traums.
Er ging wieder in das Wohnzimmer der Suite. Dort hing ein Gemälde: Eine schlanke, kupferhaarige Frau wehrte sich gegen einen sie packenden Dämon. Nach den darkovanischen Legenden, die Kerwin in seiner Kindheit gehört hatte, identifizierte er die mythischen Figuren. Das war die Vergewaltigung Camillas durch den Dämon Zandru. Es gab noch andere Bilder von darkovanischen Legenden. Er erkannte Darstellungen der Ballade von Hastur und Cassilda , die legendäre Cassilda an ihrem goldenen Webstuhl oder am Ufer des Sees von Hali, wo sie sich über den bewußtlosen Sohn des Lichts beugte, Camilla, die ihm Kirschen und andere Früchte brachte, Cassilda mit einer Sternenblume in der Hand. Alar in seiner Schmiede, Alar, in der Hölle angekettet, wo die Wölfin an seinem Herzen fraß, Sharra, sich aus den Flammen erhebend … Camilla von dem Schattenschwert durchbohrt. Undeutlich
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