Die blutige Sonne
habe man ihn in aller Öffentlichkeit nackt ausgezogen. Aber er sagte sich, daß wahrscheinlich noch keiner der anderen ohne einen Gedanken, dessen er sich schämte, durchs Leben gegangen war, und daß er sich einfach daran gewöhnen müsse.
Und wenigstens wußte er jetzt, daß es keinen Sinn hatte, Neyrissa etwas vorzumachen. Sie kannte ihn durch und durch. Sie war als Überwacherin tief in seinen Körper eingedrungen und nun auch in seinen Geist und hatte die Stellen gesehen, die er lieber vor ihr verborgen hätte. Und immer noch akzeptierte sie ihn. Es war ein gutes Gefühl. Paradoxerweise gefiel sie ihm nicht besser als vorher, aber jetzt wußte er, daß es darauf nicht ankam. Sie hatten etwas geteilt und es verarbeitet.
Kerwin war etwa vierzig Tage in Arilinn, als ihm wieder einfiel, daß er noch nichts von der Stadt gesehen hatte. So fragte er eines Morgens Kennard – er war sich nicht sicher, welchen Status er hier hatte – ob er einen Erkundungsgang machen dürfe. Kennard sah ihn kurz an. »Warum nicht?« Der ältere Mann riß sich aus seiner Versunkenheit. »Zandrus Höllen, Junge, du brauchst nicht um Erlaubnis zu fragen. Tu, was dir Spaß macht. Geh allein, oder laß dir die Stadt von einem von uns zeigen oder nimm einen der Kyrri mit, damit du dich nicht verläufst. Ganz wie du willst!«
Auster, der vor dem Feuer saß – sie waren alle in der großen Halle –, drehte sich um und stellte säuerlich fest: »Mach uns keine Schande, indem du in diesen Kleidern gehst, ja?«
Alles, was Auster sagte, spornte Kerwin an, das genaue Gegenteil zu tun. Doch Rannirl meinte: »Man wird dich in diesem Zeug anstarren, Jeff.«
»Man wird ihn auf jeden Fall anstarren«, bemerkte Mesyr.
»Trotzdem. Komm mit, ich gebe dir für den Augenblick etwas von meinen Sachen. Wir sind ungefähr gleich groß, glaube ich. Und dann sollten wir etwas unternehmen, um geeignete Kleidung für dich zu besorgen.«
Kerwin kam sich lächerlich vor, als er die kurze, spitzenbesetzte Weste, die lange Bluse mit den weiten Ärmeln und die Breeches, die nur bis an den Rand seiner Stiefel reichten, anzog. Auch hatte er in der Farbzusammenstellung einen anderen Geschmack als Rannirl. Wenn er schon darkovanische Kleidung zu tragen hatte – und er mußte zugeben, daß er in seiner terranischen Uniform albern aussah –, brauchte er immer noch nicht in einem magentaroten Wams mit orangefarbenen Einsätzen herumzulaufen! Wenigstens hoffte er das.
Zu seiner Überraschung stellte er jedoch bei einem Blick in den Spiegel fest, daß diese farbenprächtige Ausstattung ihm sehr gut stand. Sie brachte seine ungewöhnliche Größe und sein rotes Haar vorteilhaft zur Geltung, während ihm beides in terranischer Kleidung zum Nachteil gereicht hatte. Mesyr warnte ihn davor, eine Kopfbedeckung aufzusetzen. Die Telepathen des Arilinn-Turms zeigten ihr rotes Haar voll Stolz, und es schützte sie gegen zufällige Angriffe oder Beleidigungen. Auf einer Welt täglicher Gewalttaten wie Darkover, wo Straßenkämpfe ein beliebtes Mittel waren, überschäumendes Temperament abzureagieren, war das, wie Jeff Kerwin zugeben mußte, nur vernünftig.
Während er durch die Straßen der Stadt wanderte – er hatte sich entschieden, allein zu gehen –, war er sich der neugierigen Blicke und des Geflüsters bewußt. Niemand rempelte ihn an. Für ihn war Arilinn eine fremde Stadt. Er war in Thendara aufgewachsen, und der Dialekt hier war anders. Auch der Schnitt der Kleidung war anders. Die Frauen trugen längere Röcke, man sah weniger der importierten terranischen Kletterwesten und mehr der langen Kapuzenmäntel, bei Männern wie bei Frauen. Die Fußbekleidung eines Terraners paßte nicht zu dem darkovanischen Anzug, den Kerwin trug. Rannirl, größer als Kerwin, hatte für einen Mann erstaunlich kleine Füße, und seine Stiefel hatten ihm nicht gepaßt. Gerade kam Kerwin an einem Straßenladen vorbei, wo Stiefel und Sandalen ausgestellt waren. Auf einen Impuls hin ging er hinein und fragte nach einem Paar Stiefel.
Der Besitzer benahm sich so demütig und ehrfurchtsvoll, daß in Kerwin der Argwohn aufstieg, er habe irgendeinen gesellschaftlichen Fehler begangen – offensichtlich betraten die Comyn selten gewöhnliche Läden –, bis das Handeln begann. Dann gab sich der Mann so verzweifelte Mühe, Kerwin von den ziemlich billigen Stiefeln, die er sich ausgesucht hatte, abzubringen und ihm das teuerste und am besten gearbeitete Paar im Laden aufzudrängen, daß Kerwin
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