Die Blutlinie
mit dem, was Gene Sykes über den Inhalt des Glases herausgefunden hat. Leos und Alans Augen weiten sich. James’ Blick wird geistesabwesend. Ich kann beinahe hören, wie es in seinem Kopf arbeitet.
»Aha«, sagt er. »Jemand hat ihm diesen Mist eingetrichtert. Entweder glaubt dieser Jemand, dass es wahr ist, oder er möchte, dass Jack Junior denkt, es wäre wahr.«
»Vielleicht hat er sich selbst diesen Schwachsinn ausgedacht«, entgegnet Leo. »Warum sollte ein Dritter darin verwickelt sein?«
»Weil eine so große Selbsttäuschung seine Organisation und Kompetenz beeinträchtigen würde. Denk darüber nach.«
Callie nickt. »Ich bin der gleichen Meinung, Zuckerschnäuzchen. Sich so etwas einzureden und dann zu vergessen, dass man es sich eingeredet hat … ich glaube nicht, dass er dann sonderlich gut funktionieren könnte. Er wäre geistig viel zu verwirrt.«
»Es ist ein großer Durchbruch«, fahre ich fort. »Eine weitere Spur. Jetzt suchen wir nicht nur nach ihm, sondern auch nach demjenigen, der ihm das eingeredet hat.« Ich wende mich an Callie. »Bring das rüber zu Dr. Child. Ruf ihn zu Hause an, falls er nicht im Büro ist. Sag ihm, dass ich ihn morgen früh sprechen muss. Diesmal könnte ein Profil wirklich von Nutzen sein.«
»Verstanden.«
»Er fängt an Mist zu bauen«, sage ich. »Erstens dieses Glas, und dann verrät er uns auch noch, dass er mich verfolgt.«
Alan blickt alarmiert auf. »Wie bitte?«
»Es steht in seinem Brief. Ich bin zu einer Schießbahn gefahren, nachdem wir von San Francisco zurückgekommen sind. Er schreibt in seinem Brief, dass er mich dabei beobachtet hat. Was ein dummer Fehler ist.«
»Du musst extrem vorsichtig sein, Zuckerschnäuzchen.«
Ich lächle. »Keine Sorge, Callie. Ich werde einen alten Freund anrufen. Er war früher beim Secret Service. Ich werde ihn bitten, mich zu überwachen.«
Sie nickt. »Er wird dich beschatten, und indem er das tut, findet er jeden anderen, der dir folgt.«
»Genau. Mein Freund ist verdammt gut. Er findet auch jede Wanze und jeden Sender an meinem Wagen. Ich lasse ihn auch das Haus absuchen. Falls er was findet, lasse ich es dort. – Wir wissen dann, wo die Wanzen sind, aber er weiß nicht, dass wir es wissen.«
»Ist dir aufgefallen, dass du ›er‹ und nicht ›sie‹ gesagt hast?«, fragt James.
Ich sehe ihn überrascht an. Es war mir nicht aufgefallen. »Ich schätze, das ist so, weil ich mehr und mehr überzeugt bin, dass er der Hauptakteur ist. Es gibt einen Jack Junior, der andere ist unwesentlich. Ich kann es spüren. Denkt an Ronnie Barnes. Jack hat ihn benutzt und beseitigt. Er hat es in seinem Brief geschrieben – dass er nach weiteren Mördern sucht, die er fördern kann.«
»Damit stellt sich die Frage nach dem zweiten Täter aus Annie Kings Wohnung«, sagt James. »Ist er noch am Leben – oder ist er tot wie Ronnie Barnes?«
»Das können wir nicht mit Sicherheit sagen … Allerdings schätze ich, dass er noch lebt.«
»Ich stimme zu«, sagt Alan. »Denkt darüber nach. Er hat bei Annie mit etwas angefangen, das er bereits seit einer ganzen Weile geplant hat. Er wird bestimmt nicht mitten in seiner Operation abbrechen und einen weiteren Mordgehilfen ausbilden wollen.«
Ich sehe die anderen der Reihe nach an. »Wir kommen ihm näher.«
James starrt mich an. »Genug Rücken getätschelt«, sagt er. »Wie lautet die schlechte Nachricht?«
Ich halte die CD hoch. »Er hat uns eine weitere geschickt. Er hat wieder jemanden getötet.«
Im Büro wird es still. Leo steht auf, streckt die Hand nach der CD aus. »Bringen wir es hinter uns«, sagt er.
Ich gebe ihm die Scheibe. »Also gut.«
Sein Notebook läuft bereits. Er schiebt die CD ins Laufwerk. Augenblicke später startet das Video.
Es beginnt mit einem Titelbild – weiße Buchstaben vor schwarzem Hintergrund. »Dieser Tod wurde gesponsert von http://www.darkhairedslut.com.«
»Schreib das auf«, sage ich zu Leo.
Eine gefesselte, sich windende Frau erscheint. Sie ist nackt ans Bett gefesselt, genau wie Annie. Ich schätze ihr Alter auf knapp unter fünfundzwanzig. Sie sieht sehr natürlich aus – womit ich meine, dass sie offenbar keine Brustimplantate hat. Sie besitzt den makellosen Körper einer jungen Frau, nicht gezeichnet von der Mühsal, ein Kind auszutragen. Ihre Haare sind lang, dunkel und voll. Also wieder eine Brünette; Jack Junior scheint sie zu bevorzugen. Ihre Augen drücken alles aus, was sie empfindet: Panik, Angst, Verzweiflung,
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