Die Blutmafia
erotisches Verhältnis zu ihnen. Man kann den Kopf schütteln, man kann es verneinen, aber es bleibt die Wahrheit.«
Kiefer öffnete eine weitere Tür, und nun, als auch hier das Licht zweier Neonlampen aufflammte, sah Rio, daß sie in einem Schießstand waren. Ein Hobbykeller? O ja! Und was für einer!
Er spürte, wie sein Mund trocken wurde. Die Seilzüge schimmerten, die länglichen Formen dort, das waren wohl umgeklappte Scheiben …
»Nimm mal.« Ludwig Kiefer reichte ihm einen Stahlbügel mit zwei aufgesetzten Plastikschalen und stülpte sich selbst, ohne seine Mütze abzunehmen, so ein Ding über den Kopf. »Das knallt nämlich ganz schön.«
Er sah ihn an. »Was wir hier tun, Rio, ist natürlich nichts als Spielerei. Oder nennen wir es mal technisches Trainings. Die Wirklichkeit sieht anders aus … Ich zeig dir jetzt, wie diese Waffe gehalten wird. So.«
Beine breitsetzen, das Gelenk der Schußhand mit der anderen Hand stabilisieren – Rio hatte es hundertmal im Fernsehen oder bei Polizeiübungen gesehen. Er versuchte es. Und als sich seine Finger um den Pistolengriff schlossen, war ihm die Waffe nicht mehr so fremd wie zuvor. Es war, als ströme eine gewisse Kraft von ihr aus. Ein erotisches Verhältnis? Vielleicht …
Kiefer korrigierte seinen Ellenbogen. Und lächelte wieder. »Jetzt paß auf.« Halb zu ihm stehend, seine Augen noch auf Rios Gesicht gerichtet, betätigte er einen Schalter. Und nun verlief alles gleichzeitig: das metallische Klacken, als die Scheibe dort am Ende des Raumes hochklappte, Kiefers fließende, blitzschnelle Seitwärtsbewegung, das Hochreißen beider Arme, die Stichflamme aus der Pistolenmündung, die von den Plastikschalen des Gehörschutzes gedämpfte Explosion …
Dies war das eine. Das andere war die Scheibe dort: Engel! Kein Zweifel: Thomas Engel. Auf die Scheibe war dasselbe Foto geklebt, das ihn damals, bei seinem ersten Besuch vor vier Wochen, beeindruckt hatte. Nur, daß es ihm jetzt als Schießstand-Vergrößerung in Schwarzweiß präsentiert wurde …
Engel starrte ihn an. Die Brauen ein flacher Strich über der Nasenwurzel. In den hellen Augen der Ausdruck gedankenverlorener Sorge, an den Rio sich so oft erinnert hatte. Zum ersten Mal fühlte er etwas wie Triumph. Ein Schießstand? Gab es einen besseren Platz für dieses Schwein?
»Getroffen haben Sie ihn nicht«, wandte er sich an Kiefer.
»Nein? Sieh mal genauer hin.«
Rio beugte sich nach vorne. Tatsächlich: Genau über der Nase, in der Mitte des dunklen, flachen Strichs der Brauen, saß die Schußöffnung.
»Hervorragend!«
»Ja, ein guter Schuß. Außerdem …«
Ludwig Kiefer ließ den Rest des Satzes unbeendet. Er legte die Waffe auf ein Holzbord.
»So, jetzt du. Und zieh nicht sofort durch … Laß dir Zeit zum Zielen.«
Rio nahm die Waffe hoch in Schußhaltung. Er wußte, wer ihn erwartete: ein fetter Frühpensionär. Ein Mann namens Hampel, pardon, Regierungsdirektor Bernhard Hampel. Und er schien in Kiefer größere Emotion auszulösen als Engel. Engel war Engel, ein Geschäftemacher und Schwein … Aber Hampel …
Da kippte er hoch! Aufrechtstellung. Graue Anzugsschultern, Krawatte – das Gesicht. Und was für ein Gesicht! Hohe, fliehende Stirn. Gepolsterte Wangen. Randlose Brille. Schmaler, indifferenter Mund …
Rio ließ sich keine Zeit.
Er schoß.
Die Kugel durchschlug die Fotografie auf der Scheibe etwas oberhalb der Krawatte.
»Gar nicht so übel«, murmelte Kiefer. »Ganz beachtlich für das erste Mal …«
»Hören S'! Wollen S' denn wirklich hier sitzen bleib'n?«
»Wie bitte?« – Rio sah auf, schaute in ein strenges Kellnerinnengesicht, das ihn über einen Stapel verfleckter Tischtücher hinweg anstarrte.
Dunkle, fast schwarze Wolken schoben sich über die drei kümmerlichen Tannen, die im Garten des Cafés standen. Der Wetterumschlag mußte blitzartig erfolgt sein. Als er auf der Rückfahrt von Steinebach hier einkehrte, war der Himmel noch ganz blau und sauber gewesen.
Die wenigen Gäste drängten sich die Stufen zum Lokaleingang hoch.
»Ich kann Ihnen den Kaffee und den Obstler drinnen servieren. Hier werden S' doch naß.«
»In Ordnung. Ich komme sofort.«
Böen zerrten an den Blättern der Büsche. Die Spitzen der Tannen bogen sich. Er blieb sitzen.
»Wir müssen da noch weiterüben«, hatte der Kriminalrat zum Abschied gesagt. »Dein erster Schuß heute – na ja, Anfängerglück. Die nächste Serie lag ja nicht so gut im Ziel. Doch Talent hast du. Und
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