Die Blutmafia
gehen. Am Eingang blieb er stehen. Durch die Hecktür konnte er das Sonnendeck beobachten. Und Kitty, die sich weit über Hochstett beugte und ihre Wunderhände spazieren führte … Wirklich eine Wucht, das Mädchen! Ein Naturtalent …
Der Sommer nahm an Kraft zu. Sonnige Tage wechselten mit von sintflutartigem Regen begleiteten Unwettern, die wie riesige graue Walzen über die Stadt rollten.
Vera versuchte aufgeregt, ihre Topfpflanzen im Garten zu bergen, Rio half und befestigte auch eine vom Sturm weggerissene Markise. Doch selbst der Regen und der Sturm hatten für ihn etwas merkwürdig Unreales. Was er tat, tat er, als sei er nicht daran beteiligt. Und ähnlich verhielt es sich auch mit der Erinnerung an den Nachmittag in der düsteren, tannenumstandenen Villa in Steinebach: Das Haus, die Terrasse, der Mann im Liegestuhl, Akten, Fotografien – für ihn war es wie eine Szene aus einem Theaterstück.
Mit Kiefers Worten allerdings war es anders: sie blieben. Sie geisterten durch seine Nächte, wenn er den Schlaf nicht fand, begleiteten ihn auf seinen ruhelosen Spaziergängen durch den Englischen Garten, übertönten selbst Veras Stimme: E S MUSS SEIN , R IO . E S WIRD DAS S IGNAL , DAS ALLES ÄNDERT … W IRST DU MIR HELFEN ?
Rio ertappte sich dabei, wie er mit Stablampe und Handspiegel in Gaumen und Rachen nach verdächtigen Rötungen fahndete. Und das Brennen in der Blase? Er starrte in die Toilettenschüssel, um die Farbe des Urins einzuschätzen …
»Hysterie«, kommentierte Vera, und wahrscheinlich hatte sie recht. »Du machst dich völlig unnötig selbst fertig. Komm doch endlich runter von diesem Trip.«
Als ob das so einfach wäre …
Als ob man Ludwig Kiefers Totenkopfschädel, die dunklen, krankhaften Hautwölbungen an der Stirn, die schuppige Reptilienhaut seiner Ekzem-Hände so leicht vergessen könnte …
Eines Morgens rief Olsen an: »Wann kommst du endlich hoch aus deinem Loch? Oder gefällt's dir so gut da unten?«
»Ja. Es gefällt mir, Ewald. Ich hab' mich da unten eingerichtet.«
Auch Bruno Arend kam vorbei, sah ihn an und schüttelte den Kopf. Paul Novotny ließ überhaupt nichts mehr von sich hören.
»Geh endlich zu Dr. Herzog«, sagte Vera. Und manchmal hatte sie Tränen in den Augen oder fuchtelte mit den Fäusten vor seiner Nase herum. »Laß dir von ihm sagen, daß du zufrieden, ja, dankbar dafür sein kannst, daß dir nichts fehlt!«
Aber Rio ging nicht. Mit Schaudern dachte er daran, daß sich Vera nach jener Liebe am Nachmittag selbst untersuchen lassen mußte …
Als er dann tatsächlich Dr. Herzog aufsuchen wollte, fühlte er sich zu schwach. Er wartete, bis Vera das Haus zum Einkaufen verließ, dann schaltete er ein paar Takte des ARD-Morgenfernsehen ein, doch die Bilder wie die Stimmen blieben für ihn so fremd, so unbegreiflich, als betrachte er eine Sendung in einer ausländischen Sprache.
»Es ist nun mal so, daß dir diese Schweine nicht nur das Leben nehmen, Rio«, sagte Ludwig Kiefer, als er ihn endlich doch im Krankenhaus besuchte und sie in der Klinikcaféteria zusammensaßen, »sie zerstören dir auch noch die paar Jahre, die dir bleiben. Sie verurteilen dich zum Tode – und dann machen sie einen Bittsteller aus dir … Wir haben einen Hämophilen auf der Station. Für sechzigtausend Mark hat er sich abfinden lassen. Du mußt dir vorstellen, was sechzigtausend Mark sind … Die kannst du in einem halben Jahr verbrauchen, wenn du krank bist. Und dann? Ausgesteuert. Mitglied irgendeiner Notgemeinschaft … Das ist alles. Und die in Bonn bilden Ausschüsse, spenden ein paar Mark und sehen zu …«
Wie lange würde Olsen durchdrücken können, daß er sein Gehalt noch bekam? So, wie Rio den Verleger kannte, würde er ihm in einem halben Jahr kündigen … Eine Tragödie, lieber Olsen, ich weiß, ich weiß. Tut mir ja auch sehr leid um Rio. Aber schließlich – sind wir hier für alle Tragödien zuständig?
So würde es sein.
Und noch in einem anderen Punkt hatte Ludwig Kiefer recht: »Ehe sie dich umbringen, nehmen sie dir auch noch deine Identität.«
Es wurde ein ziemlich sonderbarer Krankenhausbesuch. Um sie herum saßen Patienten in Hausmänteln mit ihren Angehörigen. Sie aßen Kuchen, unterhielten sich leise, lachten oder machten kummervolle Gesichter.
Und vor ihm Ludwig Kiefer mit seinen ›Mordplänen‹. Die Baskenmütze, die gab es noch, aber sonst hatte der ehemalige Polizist sich sehr verändert. Er trug einen elegant geschnittenen,
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