Die Blutmafia
Schritte.
»Frau Reissner!« Dasselbe … Wären sie weggefahren, wüßtest du das doch … Sie hätten dir Bescheid gegeben. Aber kein Zettel, kein Brief, nichts.
Vielleicht war Hanne Reissner oben im Kinderzimmer. Vielleicht lief dort das Radio, und sie hörte nichts.
Iris betrat den Korridor. Sie hielt den Kopf gesenkt und betrachtete das weiß-schwarze Muster der Kachelfliesen, nannte sich eine hysterische Ziege, machte noch einen Schritt … Ihre Hand flog zum Mund. Sie konnte den Schrei nicht zurückhalten, einen schrecklichen Schrei, so laut, so gellend, daß sie selbst vor ihm erschrak.
Dort!
Ein Mensch. Ein Mann. Ein Toter …
Er lag halb auf der Treppe, den Kopf nach unten, das rechte Bein angewinkelt, das linke ausgestreckt, so daß es bis zur dritten Stufe reichte. Die rechte Schulter ruhte auf den Fliesen. Hier waren sie nicht schwarz-weiß, sie waren rot, tiefrot, bedeckt von einer Lache, einem See von Blut!
Der Mann … das war doch der Doktor?!
Er war es nicht mehr. Dieses dunkle, von einer schrecklichen Wunde zerklüftete Gesicht gehörte keinem Menschen.
Iris wandte sich um. Rennen wollte sie, konnte jedoch nur taumeln, stützte sich mit der linken Hand auf die Kommode, wankte weiter, hatte endlich die Haustür erreicht, den Garten, die Vögel, die Blumen.
Es war wie immer. Nein, nein, lieber Gott! – Nein!
Sie schluchzte. Dann zwang sie sich, ruhig zu denken. Die Beine funktionierten. Sie ging langsam. Sie überlegte. In das Haus gehst du nicht mehr rein. Ein Todeshaus. Ein Mörderhaus. Elfi, die arme Frau Reissner … was jetzt?
Sie riß die Gartentür auf. Dort stand ihr Wagen. Polizei, dachte sie … Telefon …
»… hören Sie, Iris … Jetzt hören Sie doch! Was ist denn?«
Jemand hatte ihren Arm gepackt und schüttelte ihn. Und da waren dunkle Augen, da war ein besorgtes Altmännergesicht.
»Polizei …«, flüsterte sie. »Bitte …«
»Aber wieso denn? Was ist denn mit Ihnen? Sie kippen ja gleich um.«
»Polizei …«
Das ist der Besitzer der Nachbarvilla, wußte sie jetzt. Dieser … ja, dieser Professor Marein. Und warum tut er nichts? Warum starrt er mich nur an? Warum tut denn hier keiner etwas?
Das Telefon klingelte, die Anrufe häuften sich von Stunde zu Stunde. Die Irren krochen aus ihren Löchern, und die Normalen wurden verrückt: Das Wochenende hatte begonnen …
»Was sagen Sie da?« Walter Rebmann, Kriminalrat und kommissarischer Leiter des Morddezernats, lehnte sich nach vorne, als könne er sich so vergewissern: »Familienmord? – Ja, was, um Himmels willen, soll denn das schon wieder sein? Wenn Sie schon in der Zentrale die Gespräche aufnehmen, werden Sie ja wohl auch noch normal sprechen können, oder? – Wie? In der Tauberstraße … Das ist doch Harlaching? Und der Mann ist Manager beim ACS-Konzern? Frau und Kind auch noch … Wer ist denn draußen? Der Böhme? Ja, ja, ist schon in Ordnung. Danke.«
Er legte den Hörer auf. Harlaching? Und auch noch ACS-Manager? Dazu noch – wie hatte der Idiot das gerade genannt – Familienmord … Was immer es war, wenn es sich in Harlaching abspielte, war es brisant. Hochbrisant.
Dieses verdammte Bonzenviertel brütet den Stoff aus, aus dem Skandale sind. Harlaching, das heißt, du kriegst die Medien an den Hals, und zwar den ganzen Verein, und daß der Chef wieder seine Schüttelkrämpfe bekommt. Entsetzlich! Aber – er hat ja seinen Tennissamstag … Aber Böhme? Am besten, du fährst selbst raus. Nein, geht nicht, da ist doch die Sitzung. Und jetzt?
Der Kriminalrat nahm wieder den Hörer und drückte Knöpfe. »Novotny«, sagte er dann, »erzählen Sie mir jetzt nicht, was sich alles auf Ihrem Schreibtisch stapelt und was sonst noch so anliegt. Sie fahren jetzt nach Harlaching.«
Rücksichtslos spaltete der blaue BMW die Staukolonnen auf dem Mittleren Ring. Hauptkommissar Paul Novotny hatte seinen Fahrer auf den Beifahrersitz beordert, nutzte jede Chance aus, sah jede Lücke, gab rücksichtslos Gas. Der junge Polizeimeister neben ihm schloß ergeben die Augen.
Gegen ›No‹ ist kein Kraut gewachsen. Was kannst du schon machen? Aber fahren kann er wenigstens … Sie brauchten keine zwanzig Minuten hinaus bis nach Harlaching.
»Dort!« sagte der Fahrer und deutete nach vorne.
Ja, dort. Tauberstraße 18.
Der Kastenwagen der Spurensicherung parkte vor einer vornehmen Klinkervilla. Das Gartentor stand offen und wurde von zwei Streifenbeamten bewacht.
Novotny fuhr den BMW in einen parkähnlichen
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