Die Blutmafia
Toilette.«
Rio kletterte vom Hocker, ging unsicher die ersten Schritte und spürte dabei, wie die Blicke der Mädchen ihm folgten. Als er die Tür der Zelle geschlossen hatte, waren seine Knie so schwach, daß er auf den Hocker niedersank, der dort stand.
Lieber Gott! Aber daß mit dem lieben Gott nicht viel anzufangen war, wußte er schon lange. Endlich war es so weit, daß er Novotnys Nummer eintippen konnte.
»Ja?« Der Kommissar meldete sich so prompt, als habe er auf den Anruf gewartet: »Rio, bist du's?«
»Paul! Hast du mit Weißmann gesprochen?«
»Gerade. Ich hab' ihn auch gleich erwischt. Der war ziemlich überrascht, als ich ihm mit diesen Fragen kam. Weißt du … es ist nämlich so … also weißt du, grundsätzlich …«
Warum redete er nicht weiter? Was sollte dieses ›Weißt du‹? Es brauchte nicht gefragt zu werden. Rio wußte, wußte es plötzlich und glasklar … Und da war wieder die Hitze im Rücken. Da waren wieder die tausend kalten Spitzen. Und ob er wußte? O nein, dachte er …
»Weißmann sagte, es braucht überhaupt nichts zu bedeuten. Aber er hätte dich gerne gesehen. Er ist noch bis achtzehn Uhr in der Klinik und bereit, dich zu empfangen.«
Und dann sagte Paul Novotny: »Scheiße, Rio! Das gibt's doch nicht. Ist doch gar nicht möglich, so was.«
Aber es war möglich. Und irgendwo gab es wohl jemanden, der sich Gott oder sonstwas nannte und aus schierer Langeweile die übelsten Witze ausheckte …
»Weißmann sagt, daß die Testergebnisse der anderen Patienten zwar noch nicht vorliegen, aber daß er annimmt, daß sie alle gesund seien, weil sich ja sonst wohl einer gemeldet hätte.«
Weißmann sagt … Was sollte er denn sonst sagen? Armer Paul! Er gab sich solche Mühe!
»Es ist also dieselbe Reihe, Paul? Die Zwölftausender-Reihe?«
Kurze Pause. Sein Atem. Dann das Verdikt: »Ja, Rio.«
»Ich danke dir, Paul«, sagte er und legte den Hörer auf.
Der kleine elfjährige Junge war so blaß, daß die Sommersprossen in dem runden Gesicht wirkten, als seien sie mit dem Pinsel aufgetragen. Die blauen Augen starrten den Arzt angstvoll an.
»Tut doch nicht weh, Benni.« Jan Herzog öffnete mit dem Spatel den Mund, um noch einmal den Rachen auszuleuchten: gerötet, die Mandeln eingeschlossen – ein Bild, das sich bei chronischer Bronchitis häufig einstellt. Die Infektion breitet sich auch im Rachen- und Mundraum aus.
»Wie lange hustet denn Benni schon?«
»Seit sechs Wochen – nein, sieben«, sagte Bennis Mutter. Sie stand neben dem Jungen und hielt seine rechte Hand.
»Und wie war's denn vergangenes Jahr, Frau Holzrieder?«
»Da hat er's auch gehabt. Den Husten, mein' ich. Nur, damals fing's im Herbst an. Und es dauerte etwa zehn Wochen …«
Dr. Jan Herzog nickte und wollte dem kleinen Benni den Kopf tätscheln. Doch dazu kam es nicht. Die Tür hatte sich geöffnet – ohne daß jemand angeklopft hätte. Den Mann, der dort stand und ihn zögernd und aus weit aufgerissenen Augen anstarrte, kannte Herzog. Er hatte sich verändert. Es war das Gesicht eines Menschen im Schock …
Und hinter ihm die Schwester. Sie sprach zuerst: »Herr Doktor, tut mir leid, ich konnte es nicht verhindern. Der Herr kam einfach hier rein und … und …«
»Ist schon gut«, lächelte Jan Herzog. »Herr Martin wird schon seine Gründe haben. Ich nehme an, es ist ziemlich dringend – stimmt's?«
Rio nickte. Dann schüttelte er kurz den Kopf, wie es Menschen zu tun pflegen, die aus einem Schlaf erwachen, oder Boxer, die gerade einen Niederschlag wegstecken müssen.
»Ich bin sofort bei Ihnen, Herr Martin«, sagte Herzog.
Sie saßen sich gegenüber. Dr. Herzog lächelte nicht länger. Die Augen unter den buschigen Brauen beobachteten sein Gegenüber wachsam. Rio benötigte seine letzte Kraft, um dem Blick standzuhalten und das Zittern aus seiner Stimme zu verbannen. Sachlich bleiben, sagte er sich, berichten. Aber wenn er einen einzigen falschen Ton sagt, spring' ich aus dem Fenster. Er spürte den Schweiß in den Achselhöhlen.
»Sie erinnern sich doch an das Bio-Plasma-Präparat, dem Ihr Freund Reissner seine Infizierung zu verdanken hatte?«
»Und ob! So gut, daß ich noch beinahe die Nummer weiß. Irgend etwas mit zwölftausendvierhundertdreißig … Meinen Sie, ich könnte das vergessen?«
»Ihr Zahlengedächtnis ist in Ordnung. Dieter Reissner bekam Beutel 12.426. Und ich …« So verdammt schwer war es, jetzt weiterzusprechen, so schwer vor diesen Augen, so schwer überhaupt.
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