Die Blutmafia
die Knie nieder. Es wurde ihm sonderbar, fast andächtig zumute, dabei war das erste Bild ziemlich verwackelt. Es zeigte ihn auf dem Gepäckständer eines Damenfahrrades, ein ironisch-überhebliches Grinsen im Gesicht. Wann war denn das gewesen? Zwiefalten natürlich. Damals, als sie im Straßengraben gelandet waren …
Und weiter? Die nebelverhangenen Palmengärten von Gomera, durch die sie im November gewandert waren … Hier wiederum er selbst: wild im Wasser herumplanschend. Wo noch? Stimmt, Langenargen, Bodensee. Und Vera hatte ihn über die Mauer gekippt, einfach so …
Und da war auch sie! Schräg über das weiße Papierband geklebt. Es war ein großes Farbfoto, das Pestel, der Berliner Korrespondent des ›N EWS K URIER ‹, geschossen hatte. Das Foto war nachts aufgenommen, den Hintergrund bildete der Pastellschein von Feuerwerken. Vorne aber ritt Vera auf den Schultern eines Mannes. Wer immer der Kerl gewesen sein mochte – man sah nur den struppigen Kopf. Darüber aber schwebte Veras verzücktes, lachendes Gesicht. Eine Sektflasche hielt sie in der Hand, hielt sie genau dem Beschauer entgegen. Berlin … Neunundachtzig. November … Die Nacht, als die Mauer fiel …
Sein Herz klopfte laut und hart. Und der Finger, der sich auf das Foto legte, zitterte.
Er stand auf. Vera, dachte er, Vera …
Und dann rief er es: »Vera!« – und scherte sich einen Dreck um die anderen Bilder, die Moskau-Fotos, die Fotos, die Rio, den N EWS -K URIER -Star-Reporter, in Südafrika zeigten. Zum Teufel damit!
Er schob die Tür auf.
Das weiße Band lief mit seinen Bildern im Schlafzimmer weiter. Es endete direkt am Bett. Und darauf saß sie nun, saß im Lotussitz, saß auf den braun-weißen Mäanderstreifen der Indiodecke, die er ihr von seiner Perureise mitgebracht hatte, und sah ihn aus weitgeöffneten Augen entgegen.
»Menschenskind, Vera … Ach – Vera …«
Ihre Haut leuchtete. Sie trug eines seiner Jeanshemden, aber sie hatte es nicht zugeknöpft. Die Schenkel und der zarte Streifen des Oberkörpers, den die Hemdkanten freigaben, leuchteten weiß wie Schnee, und als sie die Arme hochhob und lächelte, öffnete sich das Hemd und gab die festen und doch so zarten Wölbungen ihrer Brüste frei.
»Sieh mal, wer da kommt!« lachte sie.
»Vera – Vera. Ich bin den ganzen Weg nach Rom gepilgert. Meine Füße – hilf …«
Seine Arme streckten sich ihr entgegen, die Fingerspitzen hatten ihre Kniekehle erreicht, fühlten darüber, sacht, ganz sacht, fühlten die Wärme, all diese zarte Glätte, wanderten weiter …
»Laß das …«
»Wieso?«
Ja – wieso? Das Hemd stand nun ganz offen, und es war ohnehin das einzige Kleidungsstück, das sie am Leib trug. O Vera! … Veras Körper, Veras Bauch, die Beine, alles so glatt, so vertraut und aufregend.
»Jetzt hast du's plötzlich eilig … Und vorhin? Was war da? Kerzen hab' ich angehabt. Und ein Räucherstäbchen wollte ich auch noch anzünden, aber du …«
»Ich? Ja, ich …« Das Wort ›ich‹ in ihm war wie ein pulsierendes Echo.
»Wo kommst du überhaupt her? – Nimm die Finger weg. Ich hab' dich was gefragt. Laß das … Und ich finde …«
Seine Lippen erstickten allen Protest. Er spürte, wie die Erinnerung wieder in ihm aufsteigen wollte, hörte Stimmen, die Stimme des alten Mannes, und schob sie zur Seite. Vera! Der Hals, die Schultern, das war Vera, ja, dies war das Leben …
Er umklammerte ihre Schultern wie ein Ertrinkender und verlor sich in all dieser Hingabe, dieser Weichheit, diesem Sich-Öffnen – er verlor sich und fühlte sich geborgen …
Die Kerzen brannten. Ruhige, stille, kleine Lanzenspitzen in der ruhigen Stille des Zimmers. Sie atmeten, und ihr Atem war derselbe.
Vera schlief … In Rio versuchte steinschwere Benommenheit den von Furcht getriebenen Aufruhr der Gedanken gnädig zu dämpfen.
Er zog den Arm unter ihrem Nacken hervor, richtete sich auf und betrachtete die Schatten, die die Kerzen an die Wand warfen. Und es war ihm, als würden die Schatten lebendig, als würden sie sich bewegen, sich ausbreiten wie auslaufende Tinte, als würde aus dem Dunkel der Zimmerecke etwas wie Nebel hochkriechen, etwas, das nicht benennbar war – noch nicht. Bis es sich dann zu Gesichtern formte, zu einem anderen Gesicht, das er stets auf dieselbe Weise erlebte, starr ihn anblickend wie eine unfertige Zeichnung, ein Mund, den immer dieselbe schüchterne, manchmal zynische Traurigkeit umspielte: Dieter Reissners Mund, Reissners Gesicht
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