Die Blutmafia
sehr. Ich habe Ihre Artikel gelesen, Herr Martin.«
Rio nickte. Die Hand, die er nun hingehalten bekam, war von einem dünnen Baumwollhandschuh bedeckt. Er war dankbar für diesen Handschuh.
»Ich setz' mich mal neben Sie, Herr Martin. Kann ich?«
Es passierte selten, daß Rio verlegen wurde. Er war in den unmöglichsten Situationen den unmöglichsten Menschen begegnet, Kranken, Leidenden, Ausgestoßenen, auch Sterbenden – nie aber hatte er eine derartige Befangenheit verspürt. Vielleicht lag es an der Selbstverständlichkeit, die der Mann trotz seines Aussehens ausstrahlte, vielleicht auch an der gelassenen Kraft seiner Stimme …
Paul Novotny stand vor ihnen. Er sah sie an mit dem wachsamen Gesicht eines Arztes, der seine Lieblingspatienten betrachtet.
Rios Hals wurde noch enger. Was sollte das?
»Wissen Sie, Herr Martin, ich wohne in Steinebach. Früher fuhr ich jeden dritten Tag nach München, holte mir Bücher in der Bibliothek oder besuchte alte Freunde wie Paul. Heute reicht's nur noch bis zum Tierpark.«
Rio beobachtete das Auf und Ab seines Adamsapfels. Gleich einem Stengel ragte der Hals aus einem viel zu weiten Kragen. Und auch er war schuppig, von einer Art Ausschlag bedeckt.
»So ein Zoo hat etwas ungemein Entspannendes an sich. Vor allem jetzt, um diese Zeit. Die Schulklassen sind weg, die Liebespaare haben noch keine Zeit, und die geschiedenen Väter, die hier immer rumtraben, dürfen ihre Kinder auch noch nicht abholen … Wie ist das eigentlich, Herr Martin, haben Sie welche?«
»Kinder?«
»Ja, Kinder. Das hab' ich nämlich vergessen, Paul zu fragen.«
»Ist das denn wichtig für Sie?«
Rio erhielt keine Antwort, nur dieses halbe Lächeln, das kein Lächeln war, sondern nichts anderes als ein gespenstisches Bemühen um Sympathie.
»Ich habe keine Kinder.«
Kiefer nickte. »Sehen Sie, so ein Tierpark hat noch andere Vorteile. Die Menschen lassen sich da leichter aus der Distanz beobachten.«
»Wie praktisch!«
»In diesem Fall, lieber Herr Martin, schon. Und jetzt wollen Sie doch sicher wissen, wieso ich den guten Paul gebeten habe, dieses Zusammentreffen herbeizuführen.«
Und Paul schwieg weiter.
»Ich nehme an, es geht um das Thema Bio-Plasma …«
»Das ist mir zu vage, Herr Martin, das Thema Bio-Plasma … Es geht um uns. Damit meine ich nicht allein uns beide, obwohl wir ja eigentlich schon Grund genug wären.«
»Sie sind also auch …«
»Ja, Herr Martin, Paul hat's Ihnen ja gesagt. Ich bin auch durch eine Charge von Bio-Plasma angesteckt worden. Nach einer Bypass-Operation. Wir sitzen im selben Boot … Wir haben die gleichen Henker … Für Sie müßte eigentlich ein einziger Blick auf mich genügen, um zu wissen, was das letztendlich bedeutet.«
Er brach ab. Die Stimme war bei den letzten Worten leise geworden, fast erloschen, nun ertrank sie in einem wilden Hustenanfall. Es war ein kurzer, gräßlicher, heftiger Anfall, der den ganzen Körper schüttelte.
Paul Novotny war neben den alten Mann getreten und hielt ihn an der Schulter fest, als könne er damit irgend etwas ändern. Rio wartete, bis es vorüber war, bis das hechelnde, bellende Geräusch aufhörte, die bläuliche Gesichtsfarbe verschwand und der Kriminalrat sich den Mund mit einem Papiertaschentuch abgetupft hatte. Kiefer lehnte sich nun zurück und wischte mit dem behandschuhten Zeigefinger eine Träne aus den Augenwinkeln.
Und wieder war die Stimme kräftiger, als es nach allem zu erwarten war: »Pneumokokken«, sagte er ganz ruhig. »Meine lieben Freunde, die Kokkis … Haben wir aber inzwischen ganz schön in den Griff bekommen … Die kommen und gehen. So wie all die anderen, ob Pilze oder Bakterien … Wenn Sie mal soweit sind, können Sie sich's nämlich aussuchen.«
Rios Hände krampften sich zusammen.
»Am Anfang, als die Husterei begann – das ist der Witz, Herr Martin –, am Anfang, da dachten sie alle: Na ja, den Kiefer hat's erwischt. Ein sauberer Morbus Hodgkin's. Wer tippte denn bei einem alten Polizisten auf Aids, nicht wahr? Aber lassen wir mich aus dem Spiel. Was bin ich schon? Nichts … Was war ich damals? Ein angeschlagener, rostiger alter Dampfer. Vergessen wir auch Sie, obwohl Sie ja aus meiner Sicht bewundernswert gesund wirken. Vergessen wir also uns beide und denken an all die anderen. Auch an die, die womöglich noch diesen Schweinen zum Opfer fallen werden … Warum? Weil wir uns fragen sollten: Was ist denn schließlich schon geschehen? Dienstaufsichtsverfahren, das
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