Die Blutmafia
erneut. Kleine, pulsierende Kreise an beiden Schläfen, winzige Hitzepunkte, die wie Signale Pfeile von sich schleuderten. Er wußte, woher sie kamen: Die Nacht zuvor, seine Alpträume, Ludwig Kiefer, der Pharao im Lehnstuhl, die Fotos … Er zwang sich, sie weiter anzusehen …
›Can Rosada ‹, Engels Haus, stand auf einer Anhöhe und war aus gewaltigen, goldbraunen Bruchsteinmauern erbaut. Im ersten Stock gab es eine Säulenloggia, doch es war nicht zu erkennen, ob es sich bei den bunten Flecken um Blumen oder Menschen handelte. Rechts stieß die Loggia an einen quadratischen, mit Zinnen versehenen Turm. Pinien und Olivenbäume bildeten eine Art Park. Links zog sich ein Spalier von Zypressen. Sie erhoben sich dunkel, fast schwarz über einem blau leuchtenden, mit zwei Statuen geschmückten Pool. Es war ein Bild wie aus einem Maklerkatalog für diejenigen unter den Millionären, die das Besondere lieben.
Rio schob das Bild zur Seite und nahm ein neues zur Hand. Sein Puls ging schneller. Es war der Schnappschuß eines Mannes, und die Kamera hatte den Mann in einer aufschlußreichen Situation eingefangen: Er flankte über ein Hindernis, hing regelrecht in der Luft. Das Hindernis war eine rot-weiß gestrichene Abschrankung. Sie mußte sich irgendwo in diesem Hafen von Cala d'Or befinden, denn im Hintergrund sah man Schiffssteven, Poller, Schiffsseile. Und man sah zwei Frauen. Sie waren beide ziemlich jung und tadellos gewachsen. Bei den wenigen bunten Stoffetzen, die sie auf der Haut trugen, war das ohne weiteres feststellbar. Wem der Typ entgegenflankte, blieb unklar. War das Thomas Engel?
Ja, denn hier haben wir ihn wieder! Ohne Frauen, ohne Yacht, im Freien, an einem Tisch, die Hände unter dem Kinn.
Rio fiel ein, wie der dicke Olsen herumgetobt hatte, als es weder den Bilder-Diensten noch dem ›N EWS K URIER ‹-Bildarchiv gelungen war, für die Artikel über den ›Bio-Plasma‹-Skandal ein vernünftiges Bild von Engel aufzutreiben, so daß sie schließlich zu einem verschwommenen, verjährten Schwarzweißfoto Zuflucht nehmen mußten.
Über dieses Foto hier hätte der Dicke gejubelt. Es zeigte einen braungebrannten, schmalgesichtigen, schmallippigen Mann mit Stirnglatze. An den Schädelseiten klebten kurzgeschnittene, graublonde Locken. Die Brauen waren beinahe waagerecht. Die Stirn zerschnitten vier wie mit der Gabel gezogene Falten. Das auffälligste war der Ausdruck der Augen. Ihre Farbe war von einem rauchigen Blau, in den Pupillen schien sich eine Art lauernder, verzweifelter Zorn zu sammeln. Es war das Foto eines Mannes, der sich anschickte, irgend jemandem, den er nicht kannte und den man nicht sah, an die Gurgel zu gehen.
Rio drehte das Bild um.
Es gab keinen Vermerk darauf. Nur ein Datum: 24. März. Das war nicht allzu lange her. Fest stand auch: Das Foto war mit einem Zoom geschossen. Nur das Porträt des Mannes war scharf, was ihn umgab, blieb eine Szenerie verwischter Schatten. Offensichtlich ein Café. Cala d'Or? Was sonst? …
Rio schob die Fotos hin und her, sie klebten an den Fingerspitzen, die matte Abdrücke auf der Hochglanzoberfläche hinterließen. Die Visionen der Nacht wuchsen wieder hoch, und mit ihnen seine Angst. Er dachte an Vera, an Reissner – und sein Mund wurde trocken, und sein Herz raste.
Wieder Engel … In Jeans und Polohemd, durchtrainiert, souverän, gelassen, genau so, wie man sich die Millionärsrentner vorstellt. Uninteressant.
»Hast du das kleine Mädchen gesehen?« fragte der Alte.
Es gab einige ›kleine Mädchen‹ auf diesen Bildern, doch Rio wußte sofort, was der Kriminalrat meinte: Eine 6 x 9-Aufnahme, wahrscheinlich mit einem extremen Weitwinkel aufgenommen, denn die Hand, die sich der Kamera entgegenstreckte, hatte sich zu einer absurden Größe verzerrt.
Das Mädchen, dem die Hand gehörte, war braungebrannt, schlank und trug nichts als einen schwarzen Monokini. Nach der Form der kindlichen Brüste zu schließen, konnte sie nicht älter als vierzehn oder fünfzehn sein.
Als er das Foto in der Hand hielt, fiel ihm alles ein, was er sich über Engels Beziehungen zu Frauen zusammengereimt hatte. War er auch auf Minderjährige scharf? Doch nun erwartete ihn eine Überraschung.
»Es ist seine Tochter«, sagte Ludwig Kiefer. »Sie heißt Irena. Sie wurde bisher in einem Internat erzogen, in der Odenwald-Schule, aber irgendwie hat er es fertiggebracht, sie zu überzeugen, dort abzuhauen und zu ihm zu kommen. Natürlich hat er kein Fürsorgerecht. Und
Weitere Kostenlose Bücher