Die Bogenschützin: Roman (German Edition)
dass du mich morgen nicht in Ungnade fortschicken wirst, wenn ich meinen Mut zusammengenommen habe und komme, um… Um jene Frage zu stellen, die mir andere auf so grobe Weise vorausgetragen haben?«
Hedwigs Hände begannen zu zittern. » Ich würde mir wünschen, dass du sie nicht nur wegen der anderen stellst.«
» Sondern weil es mein innigstes Begehren ist, dass jede Fremdheit zwischen uns vergeht. Ich bin überzeugt davon, dass der Himmel dich mir sandte. Beim ersten Mal war ich zu verblendet, um es zu verstehen. Ein zweites Mal werde ich denselben Fehler nicht machen. Aber ich will deine Antwort nicht heute Abend, nach diesem unglückseligen Tag.«
Damit verbeugte er sich eilig und ging, als fürchte er sich davor, dass sie ihm doch gleich antworten könnte.
Hedwig fand ihren Onkel in seinem Zelt auf dem Rücken liegend vor, es roch süßlich schwer nach seinem Rausch.
Er schnarchte so laut, dass sie in der Dunkelheit des Nebenzeltes zuerst nicht bemerkte, dass mit Irina etwas nicht stimmte. Ihre Freundin atmete gequält, als gäbe sie sich Mühe, nicht laut zu schluchzen. Zusammengekauert lag sie auf ihrem Lager und hatte sich die Decke über den Kopf gezogen.
Hedwig versuchte herauszufinden, was hinter Irinas Kummer steckte, wurde jedoch von ihr abgewiesen. Schließlich ging sie zu Bett, unfähig, zwischen Schluchzen, ferner Musik, Schnarchen, ihren wirren Gedanken und den Bildern des Tages in den Schlaf zu finden, und doch zu erschöpft, um sich noch rühren zu können. Erst kurz vor Sonnenaufgang schlief sie eine Weile, nur um beim ersten Vogelgesang mit rasendem Herzen wieder aufzuschrecken und von denselben Gedanken heimgesucht zu werden, die sie in den Schlaf begleitet hatten. Die jubilierende Melodie einer Lerche ließ sie kurz bei den schönen Bildern verweilen, vor allem bei dem hoffnungsvollen Ausdruck in Wilkins Gesicht, als er ihr seinen Wunsch gestand, um sie zu freien.
Ihr erster wacher Blick galt gleich darauf Irina, und kein noch so hell klingender Lerchenjubel konnte ihr die Freude zurückrufen. Ihre Freundin setzte sich auf, schlug ihre Decke zurück und erhob sich mit den mühevollen Bewegungen einer gebrechlichen alten Frau. Sie trug noch ihr Kleid vom Vortag, nur war eine seitliche Naht des Mieders aufgerissen und der Rock voller Flecken. Eine noch deutlichere Sprache sprachen die Würgemale an ihrem Hals, Irinas gebeugte Haltung und die Hand, die sie auf ihren Leib presste.
Entsetzt sprang Hedwig auf und legte ihr die Hand auf die Schulter. » Irina, was…?«
Ihre Freundin wandte sich mit einem Ruck von ihr ab. » Nichts. Nichts ist geschehen. Lass mich in Ruhe.«
Cord hatte die Nacht gemeinsam mit drei gut ein Dutzend Jahre jüngeren Männern schweigend in einer Seitenkapelle der Nikolaikirche verbracht. Abwechselnd knieten, standen oder lagen sie auf ihren Bäuchen vor dem Altar, dem Gebrauch folgend, den sie alle von Kindheit an aus den Erzählungen älterer Ritter kannten. Einer langen Zwiesprache mit Gott sollte diese Nacht dienen, die Teil der traditionellen Schwertleite war.
Vielleicht hätte Cord tatsächlich beten können, wenn er allein gewesen wäre. Die Anwesenheit der drei Knaben– denn mehr waren sie in seinen Augen nicht– lenkte seine Gedanken jedoch immer wieder in andere Richtungen. Mit jeder Geste und jedem Blick schienen die drei ihm zu verstehen zu geben, dass sie ihm großmütig seine ungewöhnliche Ehrung gönnten. Ein Großmut, der laut beschrie, wie erhaben diese Söhne lang vermählter adliger Eltern sich über ihn fühlten und wie ausgeschlossen es war, dass sie ihn je als Ihresgleichen betrachten würden, und schlüge ihn der Markgraf drei Mal zum Ritter.
Statt sich in ein friedliebendes Gebet zu versenken, verbrachte er daher die erste Zeit damit, sich in aller Stille auszumalen, mit wie viel Leichtigkeit er jeden dieser grünen Jungen in allem schlagen konnte, auf das sie vermutlich besonders stolz waren.
Später trug er erneut den inneren Zwist mit seinem Vater aus. Nun, als erwachsener Mann, verstand er, dass Kaspar nicht genug an Cords kleinadliger, doch besitzloser Mutter gehangen hatte, um für eine Heirat mit ihr auch noch Ungelegenheiten in Kauf zu nehmen und die Aussicht auf eine gewinnbringendere Ehe aufzugeben. Dennoch fühlte Cord noch immer die Kränkung des Kindes, das viele Jahre lang geglaubt hatte, es läge an ihm, dass der Vater ihn nicht voll anerkannte.
Je weiter die Nacht voranschritt, desto gründlicher überdachte er
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