Die Botschaft Der Novizin
durchaus wahrnehmen konnte. Sie stand auf, um Suor Anna mit dem Kind durchzulassen, und setzte sich wieder Isabella gegenüber.
»Wie geht es weiter?«, wollte Isabella wissen.
»Wie es immer weitergeht in solchen Fällen. Zwei noch recht junge Äbtissinnen starben rasch hintereinander, bevor sie ihr besonderes Wissen weitergeben konnten. Vielleicht war die Pest der Grund, vielleicht auch der blutige Durchfall, dashitzige Fieber. Wer weiß das schon? Zwar wurden die Hüterinnen ersetzt, und der Orden der Custodes Dominae erlosch nicht, doch das Wissen um den Aufbewahrungsort der Schrift ging verloren. Das war weiter nicht schlimm, denn damit war ein Ziel erreicht. Die Schrift war tatsächlich so versteckt worden, dass niemand sie je würde finden können.« Signora Artella fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. »Man war zufrieden. Es galt einzig, den Ort zu schützen. Doch auch das gestaltete sich schwieriger, als man es sich gemeinhin vorstellt. Das Kloster wuchs. Man benötigte Gebäude für die Conversas, für neue Chornonnen; man nahm neue Educandas auf. Hier wurde ein Gebäude errichtet, dort wurden Wände eingezogen und Zellen gebaut oder Schulungsräume, an anderer Stelle ein Garten aufgelöst und gepflastert, eine Zisterne erneuert.«
Isabella biss sich auf die Lippen, doch dann sprudelte es aus ihr heraus. »Und niemand wusste mehr, wo die Schrift lag und ob sie noch dort lag, wo sie liegen sollte.«
»Schlimmer noch. Wir Custodes Dominae hatten die Aufgabe übertragen bekommen, das Manuskript zu schützen und sein Andenken zu bewahren. Doch wissen wir heute nicht einmal mehr, ob wir womöglich überflüssig sind. Wenn es die Schrift nicht mehr gibt, warum sollten wir weiterexistieren?« Signora Artella lächelte etwas unbeholfen und streckte die Hände Suor Anna entgegen, die mit dem Kind zurückkehrte. Sie nahm das Mädchen, das den Kopf vor Müdigkeit und Sattheit hängen ließ, und streichelte ihm über die dunklen Haare.
Isabella beobachtete die sichere Art, wie die Schwester mit dem Kind umging, und die Gewissheit beschlich sie, dass die Nonne selbst bereits ein Kind zur Welt gebracht und versorgt hatte. »Ihr habt begonnen, danach zu suchen«, versuchte sie das Gespräch zu beschleunigen. »Ohne das Wissen der Äbtissin!«
Überrascht sah Signora Artella auf. »Woher weißt du das?« »Ich weiß es nicht, ich habe es geschlossen. Aus der Art, wie Ihr erzählt und Euch verhalten habt.«
Signora Artella legte die kleine Francesca an ihre Schulter und schloss die Augen. So verharrte sie eine geraume Weile. Das Kleine schmatzte im Schlaf, und sowohl Suor Anna als auch Isabella wagten es nicht, die Priorin zu stören.
Endlich schien sie aus ihren Gedanken aufzutauchen. »Wir waren vier: Suor Francesca, Eure Tante, Suor Maria, Suor Anna hier – und ich selbst. Von diesen vier leben noch zwei. Die beiden anderen sind tot. Ich habe sie in den Tod geschickt, als ich ihnen aufgetragen habe, heimlich das Chorbuch zu untersuchen.«
Jetzt griff Suor Anna in das Gespräch ein. Sie nahm die Kleine wieder an sich und bettete sie auf ein Kissen. »Daher wusste ich von dem Kreuz, das die vier Zeichen bilden«, erklärte sie, ohne in ihrer Tätigkeit innezuhalten. »Doch wir sind an derselben Stelle hängen geblieben. Uns fehlte die Botschaft des vierten Zeichens. Suor Francesca hatte sie eben erst entdeckt. Aber sie kam nicht wieder, wie wir wissen.«
Langsam füllte sich die Schankstube mit Leben. Männer brachen in den Raum, noch angetrunken von der Nacht davor, schrien lautstark nach Wein und Frauen.
Isabella blickte sich um. Sie konnte gar nicht glauben, dass Nonnen in der Lage waren, einen solchen Betrieb zu leiten. Doch da wurde die Tür aufgestoßen, und ein riesiger schwarzer Kerl betrat die Schankstube. Sofort verstummte der Lärm. Als ein Betrunkener sich anschickte, aufzubegehren, packte ihn der Riese mit einer Hand am Kragen und trug ihn auf die Gasse hinaus, als wäre er ein Karnickel. Dort warf er ihn weg, wie man Schmutz vom Ärmel schüttelt. Isabella hatte mit offenem Mund zugesehen und sank ein Stück in sich zusammen, als der Kerl wieder auftauchte und stracks auf sie zuschritt.
»Guten Morgen, Signoras!«, grüßte er. Der Riese steckte nur seinen Kopf in die Küche, als von dort die fröhliche Stimme von Suor Patina zu hören war: »Essen kommt sofort, Kleiner!« Isabella konnte nicht anders, sie musste prusten. Den Riesen,dessen Hinterteil auf Höhe ihrer Schulter lag, als
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