Die Botschaft Der Novizin
würden es nicht mehr zulassen.«
KAPITEL 36 »Du schwebst in Lebensgefahr!«, wiederholte Signora Artella und nahm von dem Brot, das Suor Patina aufgetragen hatte. »Francesca und Maria waren auf dem gleichen Weg wie du. Sie haben die Botschaft des Schlüssels untersucht. Dafür mussten sie vermutlich sterben.« Signora Artella hatte mit jedem Satz leiser gesprochen. Jetzt lehnte sie sich zurück und schloss die Augen.
Neben ihr, als Dritte am Tisch, saß Suor Anna und stillte ihr Kind. Die Milch floss, und sie schien selig darüber zu sein, dass die kleine Francesca einen beinahe unstillbaren Hunger an den Tag legte.
Auch Isabella war hungrig, hungrig auf zweierlei Art. Zum einen freute sie sich auf das Frühstück, das Suor Patina für sie, Suor Anna und Signora Artella in der Küche zubereitet hatte, zum anderen war sie regelrecht gierig darauf, die letzte Initiale der Neumenhandschrift zu sehen. Umso mehr, als ihr die Chornonne Angst zu machen versuchte.
»Ihr sagt mir nichts Neues. Ich hatte es vermutet.« War dieseErkenntnis bislang eher eine Ahnung gewesen, wurde sie jetzt zur Gewissheit. »Warum, glaubt Ihr, hatte man es auf sie abgesehen – und wer steckt dahinter?« Isabella fühlte, wie sich ihr Hunger verflüchtigte, doch sie zwang sich zu essen. Schließlich hatte sie seit gestern kaum mehr etwas zu sich genommen. Sie durfte sich nicht vernachlässigen; ihre nächtlichen Eskapaden forderten Kraft.
»Du kennst die Wahrheit nicht, Isabella. Ich habe die beiden in den Tod geschickt.«
Isabella hörte mit dem Kauen auf und starrte Signora Artella an, die blass und mit tiefen Augenringen vor ihr saß. »Was habt Ihr damit zu tun?«
Die Priorin fasste mit der rechten Hand ihre linke und rieb mit den beiden aneinandergelegten Daumen über ihr Kinn. »Wenn ein Kloster so alt ist wie San Lorenzo, dann ist es manchmal, als schaute man durch ein altes Fenster in die Vergangenheit. Die Scheiben, obwohl in Murano mit der höchsten Kunstfertigkeit Europas hergestellt, sind halb blind, weil sie nie geputzt wurden, und die Spinnen haben ihre Netze darüber gewoben, in denen sich der Staub der Jahrhunderte verfing. Wenn man dort hindurchschaut, dann sieht man oft nur unzusammenhängende Bruchstücke der alten Geschichte. So erging es mir, als mir bewusst wurde, was dieses Kloster für ein Geheimnis barg.«
»Das heißt, Ihr wisst, was dort verborgen wird?« Isabella lief es ganz heiß über das Gesicht.
Die Chornonne beugte sich vor, sah kurz zu Suor Anna hinüber, die nur nickte, und fuhr dann fort. »Bevor du Fragen stellst, muss ich noch etwas erklären.« Sie biss sich auf die Unterlippe. »Die Äbtissin billigt mein Vorgehen nicht, musst du wissen. Sie hätte dich am liebsten ..., nun ja, die Lagune ist verschwiegen ... und die Fische hätten ihr Übriges getan.«
Isabella, die sich eben zwei Oliven in den Mund gesteckt hatte, spuckte die Kerne auf den Boden. »Ihr meint ...?«
»Glaubt mir, ich weiß, was ich sage. Vor fünfzehn Jahren hättest du die erste Nacht nicht überlebt.« Ihr Gesichtsausdruck wirkte eigenartig starr. »Doch zurück zu dem, was ich dir sagen will. Dieses Kloster beherbergt eine Schrift, die gläubige Frauen vor der Zerstörungswut des Bischofs Irenäus von Lyon gegen Ende des zweiten Jahrhunderts und des Konzils von Nizäa im Jahre 325 nach der Geburt unseres Herrn bewahrt haben. Obwohl sie hätte vernichtet werden sollen. Der Bischof stellte einen Kanon auf, nach dem nur die vier bekannten Evangelien nach Matthäus, Markus, Lukas und Johannes die frohe Botschaft darstellen. Er bekämpfte alle Häresien, so auch alle Texte, die von Frauen geschrieben worden waren, weil sie der festgelegten Lehre widersprachen. Im Zuge dieses Kampfes verschwand eine Schrift. Sie stammte aus dem Besitz einer Kaufmannsfamilie, und irgendwann wurde sie über Aquileja hierhergeschickt, nach Venedig, um in einem Frauenkonvent aufbewahrt zu werden. Man versteckte sie, zeichnete einen Plan des Verstecks, verbarg den Plan, zeichnete wiederum einen Plan des Verstecks dieses Plans. Jeweils nur die Äbtissin wusste um den Ort, an dem die Schrift verborgen lag, und um den Plan. Sie gab das Wissen weiter.
Eine Gruppe von Ordensschwestern, ein Orden innerhalb des Ordens, wurde unterwiesen, das Geheimnis zu bewahren. Die Frauen hüteten ihren Schatz, sorgten sich um ihn, bewahrten ihn. Doch dann ...«, die Chornonne unterbrach sich, weil nebenan die kleine Francesca auf einer frischen Windel bestand, was man
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