Die Botschaft des Feuers
drohenden Gefahr.
»Zwölf Glockenschläge, richtig?«, flüsterte er. »Also Mitternacht. Ich hatte die rostige Pendeluhr des muwaqqit ganz vergessen!«
Nach dem Morgengebet verließen Charlot, Schahin und Kauri zusammen mit den anderen Gläubigen die Moschee.
Es wurde bereits hell, und die Sonne schimmerte durch
den silbrigen Nebelschleier, der sich allmählich verzog. Um das nächste Stadttor zu erreichen, mussten sie die Medina durchqueren, wo Gemüse- und Fleischhändler bereits ihre Stände aufbauten und der Duft nach Rosenwasser und Mandeln, Sandelholz, Safran und Amber schwer in der Luft lag. Die Medina von Fes, das größte Marktviertel Marokkos, war ein verwirrendes Labyrinth, in dem man sich hoffnungslos verirren konnte.
Mit der unter seiner Dschellaba verborgenen Schachfigur würde Charlot sich erst wieder in Sicherheit fühlen, wenn sie die Mauern dieser Stadt verlassen hatten, die sich überall um sie herum erhoben wie das Gemäuer einer mittelalterlichen Burg. Er musste raus aus dieser Enge, zumindest lange genug, um einmal richtig durchzuatmen.
Außerdem mussten sie unbedingt einen Ort finden, an dem sie die Figur vorläufig verstecken konnten, wenigstens so lange, bis sie dieses Mädchen gefunden hatten, das womöglich den Schlüssel zur Lösung des Geheimnisses besaß.
In der Medina, nicht weit entfernt von der Moschee, befand sich die berühmte fünfhundert Jahre alte Attarine Medersa, eine der weltweit prächtigsten Stätten islamischer Gelehrsamkeit, mit aus Zedernholz geschnitzten Türen, farbenfrohen Kacheln und goldenen Inschriftenfriesen. Der Mulai ad-Darqawi hatte ihnen gesagt, dass man vom Dach der Medersa aus, das der Öffentlichkeit zugänglich war, einen großartigen Blick auf die gesamte Medina hatte, sodass sie von dieser Stelle aus ihre Fluchtroute planen konnten.
Charlot fühlte sich von diesem Ort wie magisch angezogen. Irgendetwas erwartete ihn dort, auch wenn er nicht sehen konnte, was es war.
Als sie an der Brüstung standen, ließ Charlot seinen Blick
über die Medina schweifen und versuchte, sich zu orientieren. Vor ihnen lag das Labyrinth aus engen Gassen, die sich durch eine bunte Ansammlung aus Souks und Läden und lehmfarbenen Häusern mit kleinen Gärten, Springbrunnen und Bäumen wanden.
Aber direkt unter ihnen, mitten im al-Attarine-Souk vor den Mauern der Medersa, bot sich Charlot ein bemerkenswerter Anblick. Es war wie eine Vision, die Vision, auf die er die ganze Zeit gewartet hatte und die alle anderen Visionen blockierte.
Als ihm klar wurde, was er da sah, gefror ihm das Mark in den Knochen.
Es war ein Sklavenmarkt.
Er hatte in seinem ganzen Leben noch nie einen Sklavenmarkt gesehen, aber es konnte kein Irrtum bestehen. Dort unten standen Hunderte von Frauen in Pferchen wie Tiere auf einem Bauernhof, mit Fußketten aneinandergefesselt. Sie bewegten sich kaum und ließen die Köpfe hängen, als schämten sie sich, das Podest anzuschauen, auf dem die Händler ihre Ware feilboten.
Eine unter den vielen Frauen jedoch hob den Kopf, sie schaute ihn mit ihren silbrigen Augen direkt an, als wüsste sie, dass sie ihn dort entdecken würde.
Sie war fast noch ein kleines Mädchen, und doch von atemberaubender Schönheit. Und da war noch etwas. Charlot begriff mit einem Mal, warum er seine Erinnerung verloren hatte. Er wusste, dass er, selbst wenn es ihn das Leben kosten würde, selbst wenn er damit das ganze Spiel gefährden würde, dieses Mädchen retten musste. Endlich wurde ihm alles klar. Er wusste, wer dieses Mädchen war, und er wusste, was er zu tun hatte.
Plötzlich packte Kauri ihn am Arm.
»Mein Gott, das ist sie«, sagte er mit zitternder Stimme. »Das ist Haidée!«
»Ich weiß«, antwortete Charlot.
»Wir müssen sie retten!«, stieß Kauri hervor und klammerte sich an Charlots Arm.
»Ich weiß«, wiederholte dieser.
Aber als er Haidée in die Augen schaute, unfähig, seinen Blick abzuwenden, wusste er noch etwas, über das er mit niemandem sprechen konnte, ehe er selbst völlig begriffen hatte, was das alles bedeutete.
Er wusste, dass Haidée es war, die sein zweites Gesicht blockierte.
Sie hatten sich auf dem Dach kurz mit Schahin beraten und sich einen Plan zurechtgelegt, der zwar notgedrungen recht simpel, aber dennoch sehr schwierig auszuführen und auch gefährlich war.
Es war klar, dass sie bei dieser Menschenmenge keine Chance hatten, Haidée in einem Handstreich zu entführen. Also hatten sie sich darauf geeinigt, dass Schahin
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