Die Braut des Florentiners - TB 2006/2007
Gesicht war verzerrt wie die Fratze eines Wasserspeiers. Es bewegte sich in Lorenzos Blickfeld hin und her und schien dabei Spuren durch die Luft zu ziehen, als furche eine Barke zitternde Kielwellen auf eine bis dahin durchsichtige Wasseroberfläche.
»Sieht so aus, als käme er zu sich«, sagte jemand.
Das Gesicht wandte sich ab. »Wo du hintrittst, wächst kein Gras mehr.«
»Wenn ich zuhau, hau ich zu«, brummelte eine dritte Stimme.
Das Gesicht wandte sich wieder Lorenzo zu. Zwei tiefblaue Augen in einem Netzwerk aus strahlenförmigen Fältchen musterten ihn.
»Wenn du noch lebst, sag was«, befahl das Gesicht.
»Gebt mir was zu trinken«, sagte Lorenzo und merkte erst hinterher, dass er gesprochen hatte. Er fühlte, wie eine geschmacklose Feuchtigkeit seinen Mund erfüllte. Kopfschmerzen schossen in seinen Schädel. Er kniff die Augen zusammen und blinzelte. Das Gesicht vor ihm verlor seine verzerrten Formen und zog sich langsam zum Antlitz eines kahlköpfigen Mannes zusammen, dessen Augen wie blaues Glas waren und dessen Mund selbst dann spöttisch zu lächeln schien, wenn er es nicht tat. Es war noch immer dämmrig, doch irgendetwas schien an der Dämmerung falsch zu sein.
Lorenzo strengte sich an, um die Umgebung zu erfassen. Einige Männer standen um ihn herum; hinter ihnen erhob sich die Plane des Trosswagens mit dem Zeichen der Familie Tintori. Ein Feuer, das in einer Mulde aus Asche auf kleiner Flamme brannte, gab wenig Wärme und noch weniger Helligkeit ab. Lorenzo erschauerte. Langsam drang die Tatsache in seinen Verstand, dass das graue Licht von der Morgen- und nicht von der Abenddämmerung stammte. Er versuchte, nicht zu auffällig zu dem Trosswagen hinüberzusehen. So nahe … Dann erfasste sein Gehirn die Situation endgültig, und er erkannte, dass er zwar näher denn je an Clarice Tintoris Aufenthaltsort war, aber zugleich so weit wie nie von jeder Chance entfernt, sie zu befreien. Tatsächlich war er selbst ein Gefangener, wenn auch einer mit deutlich unklareren Überlebensaussichten als Clarice. Plan zwei war ebenfalls fehlgeschlagen. Sieh der Wahrheit ins Gesicht, Alter, dachte er: Alle deine Pläne sind fehlgeschlagen. Er holte Atem und wandte seine Aufmerksamkeit dem Mann mit dem kahlen Schädel zu. Was Lorenzo zuerst für einen Stock gehalten hatte, entpuppte sich als Bogen mit gelöster Sehne, der quer über den Knien des Mannes lag.
»Wenn ich dich richtig verstanden habe, war das also dein Pferd«, sagte der Kahlkopf. »Und dein Strick.«
»Und mein Stiefel«, erklärte Lorenzo.
Unwillkürlich wanderten alle Blicke zu Lorenzos bloßem rechten Fuß.
»Ihr habt ihn hoffentlich nicht liegen gelassen«, sagte Lorenzo. »Er ist erst zwei Jahre alt und von einem erstklassigen Schuhmacher in der Nähe des Doms.«
»Wir können ihn suchen gehen, wenn du Wert darauf legst, mit ihm zusammen begraben zu werden«, brummte jemand.
»Wenn ich ehrlich bin, würde ich lieber mit ihm zusammen noch viele Jahre lang Arschtritte verteilen.«
Er vernahm unterdrücktes Lachen. Während er ein selbstbewusstes Grinsen im Gesicht zu behalten versuchte, unternahm er gleichzeitig den Versuch, festzustellen, wo sie sich befanden. Sie mussten weitergezogen sein und ihn mitgenommen haben, bis sie diesen Lagerplatz gefunden hatten. Tatsächlich hätte der Platz auch nur fünfhundert Schritt von der alten Obstplantage entfernt sein können. Lorenzo hatte die Umgebung seines Verstecks nicht kontrolliert. Er war orientierungslos.
Die Männer bewegten sich um das Zentrum des Lagers – das kleine Feuer mit dem dahinter aufragenden Trosswagen und der Gruppe um Lorenzo davor – mit der lässigen Sicherheit derer, die sich überall zu Hause wissen, wo sie sich niederlassen. Es schien keinen Unterschied zu geben zwischen denen, die beritten waren, und den Fußgängern; bis vielleicht auf den Umstand, dass die Pferdebesitzer hier ein wenig steifbeinig waren und beim Hinsetzen verhalten ächzten. Lorenzo hatte nichts anderes erwartet. In seiner eigenen Truppe gab es nur einen einzigen Menschen, der sich von den anderen abzusetzen versuchte: Niccolò, den allein schon deswegen keiner ernst nahm. Es war die einzige Art, eine Truppe Männer wie diese hier oder Lorenzos eigene Leute zu führen: sich auf ihre Professionalität zu verlassen und ansonsten dafür zu sorgen, dass ihnen bewusst war, wohin es ging und zu welchem Zweck, und seine eigene Aufgabe innerhalb der Gruppe genauso gut zu lösen wie sie. Abgesehen
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